2. Gassen, Klauen und Mord. Das Übliche
Die Schule war die reinste Folter. Jeder Schüler kann das nachvollziehen (und wenn nicht, bist du wahrscheinlich einer der beliebten Kids oder irgendein Übermensch). Für mich war die Highschool eine ganz besondere Art von Hölle. Ich war ein schwächlicher, nerdiger Werwolf, umgeben von anderen jugendlichen Werwölfen und Menschen. Bei mir gab es nicht nur das übliche Mobbing – ich bekam auch noch die übernatürliche Variante ab.
Dazu gehörten unter anderem drei gebrochene Finger – weil ich in der Klasse angeblich ein ‚Besserwisser‘ war, Insekten verschiedenster Arten, die ihren Weg in meine Sandwiches fanden, und natürlich die Zurückweisung durch meinen Seelenverwandten. Der mich abgrundtief hasst. Was mir recht war, denn das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
Wie auch immer, mit meinen schrecklichen Erfahrungen an der Highschool hinter mir, war ich viel optimistischer, das College zu beginnen. Ein neues Kapitel aufzuschlagen.
Das Newbury College lag zwar immer noch in Seattle, was bedeutete, dass es unvermeidlich war, dieselben Leute zu treffen, die mich früher schikaniert hatten. Aber ich dachte mir, die Snobs wären so sehr mit ihren neuen Verpflichtungen beschäftigt, dass ich unbemerkt durch meine Kurse schleichen könnte. Meinen Abschluss in Bildender Kunst machen, eine Karriere als Comiczeichner starten und genug verdienen, um meine Traumwohnung für mich und meine Mom zu mieten.
Und ich lag richtig: In den ersten Tagen ließen mich meine üblichen Peiniger in Ruhe. Was meinen anderen Kopfschmerz betraf, so hatte er mich ebenfalls nicht behelligt, nicht einmal in meine Richtung geschaut. Das College musste so viel Arbeit machen, dass selbst Kane vergessen hatte, dass ich existiere. Friedliches Leben, ich komme.
Ich hätte nicht falscher liegen können.
Ich war auf dem Weg zu meinem morgendlichen Kunstkurs, der in dem zweistöckigen blauen Gebäude am Rand des Campus stattfand. Eben noch schlenderte ich entspannt darauf zu, das Gebäude im Blick, und im nächsten Moment war es verschwunden. Zwei Hände zogen mich von hinten und schoben mich in einen schmalen Spalt. Der Bereich zwischen der Cafeteria-Mauer und dem Kunsttrakt. Außer Sichtweite der Öffentlichkeit, ein idealer Ort für einen Mord ohne Zeugen.
Ich versteifte mich, mein Verstand konzentrierte sich auf das Gefühl des Messers in meiner Tasche. Ich wollte es gerade herausziehen, als mir der Geruch meines Angreifers in die Nase stieg: Kiefer und Kölnischwasser.
Kane hielt mein Handgelenk in seiner schwieligen Hand fest, sein Körper nur wenige Schritte von meinem entfernt. Nah genug, dass ich meine Augen nicht davon abhalten konnte, über ihn zu wandern und sein Aussehen in mich aufzusaugen. Kurze Haare, dunkel wie die Sünde, Haut ein paar Nuancen gebräunter von den Sommerferien unter der Sonne Miamis. Aber die Bräune war offenbar das Einzige, was die Sonne von Miami hatte wärmen können. Seine arktischen Augen und seine frostige Haltung waren unverändert. Seine Züge waren eisig, wie aus Marmor gemeißelte Perfektion.
Trotz allem spürte ich, wie mein Herz schneller schlug. Der Verräter wusste, dass wir ihm nahe waren. Meine Finger zuckten, wollten sich ausstrecken, fühlen, berühren, was eigentlich mir gehören sollte. Der Gedanke löste eine Welle des Ekels in mir aus. Ich ballte die Hände zu Fäusten. Als ob ich ihn jemals anfassen würde.
Und vielleicht war es die Wut über meine Anziehung zu jemandem, der es liebte, mich zu verletzen, oder vielleicht war ich immer noch high von dem Kampf letzte Nacht – wie auch immer, ich konnte die Worte nicht aufhalten, die mir über die Lippen rutschten.
„Erst drei Tage im College und schon hast du mich in eine dunkle Gasse gezerrt, Wilder?“
Seine Faust krachte neben meinem Kopf gegen die Wand.
Der Funke des Widerstands erlosch, erstickt von meinem alten Freund. Angst. Mit klingelnden Ohren senkte ich den Blick auf seine Stiefel, eine unterwürfige Geste. Er ließ meine Hand los, packte mein Kinn und zog es grob nach oben, sodass ich seinem glühenden Blick begegnen musste.
Mein Herz setzte aus einem anderen Grund aus. Die Augen von Werwölfen färbten sich bernsteinfarben, wenn sie kurz davor waren, gewalttätig zu werden. Eine Faust in der Wand war nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn er wirklich die Kontrolle verlor.
„Denk dran, mit wem du sprichst, Omega“, zischte er.
Eine Pause. Seine Finger schlossen sich fester um mein Kinn.
Ich zuckte zusammen. „Es tut mir leid.“
Er hatte Macht über mich, und das wusste er, nicht nur, weil er der Sohn des Alphas war. Kane war aus eigenem Recht ein dominanter Werwolf, eine Tatsache, die er niemals unter den Tisch fallen ließ. Doch heute lag etwas anderes in seinen Augen, ein Hauch von Angst? Es war verschwunden, bevor ich sicher sein konnte, dass es wirklich da gewesen war.
„Schon besser“, murmelte er, während ein Finger von meiner Wange zu meinem Hals glitt. Eine Berührung, die man für eine Liebkosung halten könnte, hätte sie nicht an meinem Puls innegehalten und dort fast schmerzhaft gedrückt. „Du hast gestern in der Klasse mit Fred Keaton gesprochen.“
„Er hat sich meine Farben geliehen“, flüsterte ich und starrte auf sein Schlüsselbein. Ich konnte seinem Blick nicht standhalten, nicht, wenn er so gereizt war.
Der Rest seiner Hand wanderte tiefer, bis er sie um meinen Hals legte. Ein einziger Druck würde reichen, um ihn zu brechen.
„Du sprichst mit niemandem in der Schule, oder brauchst du eine Erinnerung?“
„Was?“ Ich keuchte und warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Wir sind jetzt im College. Wie soll ich denn-“
„Du sprichst mit niemandem. Mit kei-nem“, knurrte er, sein Ausdruck plötzlich wild. Ich erhaschte einen Blick auf seine geschärften Eckzähne, zuckte zusammen, als seine Krallen über meine Haut schabten.
„Ich werde es nicht tun.“
Das Versprechen war dumm und überhaupt nicht rational, aber andererseits handelten Tyrannen nie rational. Es war mir in diesem Moment egal, ich hätte alles gesagt, um seine Krallen von mir zu bekommen.
Es funktionierte. Sein Ausdruck glättete sich, die bernsteinfarbenen Augen kühlten ab, als er einen Schritt zurücktrat. Ich atmete aus, hasste es, wie ich mich an die Wand lehnen musste, um nicht umzufallen.
„Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?“, fragte ich.
„Weil du mir gehörst“, antwortete er kühl.
„Du willst mich doch gar nicht“, murmelte ich.
Er steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans und neigte den Kopf zur Seite. „Nein, das will ich nicht.“
Er drehte sich um und schlenderte davon. Meine Knie gaben nach, sobald er verschwunden war. Ich zog mein Messer heraus, umklammerte es mit zitternden Händen.
Ich ging die Begegnung in Gedanken noch einmal durch. Erschuf verschiedene Versionen. Jede einzelne endete damit, dass ich ihn aufschlitzte, ihn überwältigte, mich gegen ihn behauptete. Jedes Szenario, nur nicht dieses hier.
Es hielt die Schluchzer nicht auf.
