Kapitel 2

Perspektive von Audrey:

Das Flugzeug setzte mit einem sanften Rumpeln auf dem JFK-Flughafen auf, und ich rieb mir die schmerzenden Schläfen.

Zehn Stunden in der Luft hatten mich völlig ausgelaugt, aber die körperliche Erschöpfung war nichts im Vergleich zu der mentalen Vorbereitung, die ich für das brauchte, was vor mir lag.

Ich bin die Adoptivtochter der Familie Bailey.

Vor vier Jahren opferten sie mich, um ihre kostbare leibliche Tochter zu schützen, und zwangen mich, ihren Platz in einer arrangierten Ehe einzunehmen.

Der geheimnisvolle Bräutigam zeigte während der gesamten Zeremonie nie sein Gesicht.

Alle tuschelten, er müsse alt und hässlich sein, irgendein zurückgezogener Exzentriker mit Geld, aber ohne Aussehen.

Die perfekte Person, um die Adoptivtochter an ihn abzuschieben, als ihre leibliche Prinzessin Sienna kalte Füße bekam.

Glücklicherweise hat er mich nach der Hochzeit nie kontaktiert.

Eine seltsame Vereinbarung? Ja. Aber ich begrüßte die Freiheit.

Ich baute mir ein neues Leben auf, weit weg vom Drama der Familie Bailey, und rechnete nie damit, dass er plötzlich ein Treffen verlangen würde, gerade als unser Vertrag sich dem Ende neigte.

Ich zerrte meinen Koffer durch den Flughafen, die New Yorker Luft schlug mir entgegen, vertraut und doch fremd.

Ein lauter anerkennender Pfiff erregte meine Aufmerksamkeit.

„Willkommen zurück, New Yorks sexieste Künstlerin!“

Ich wirbelte herum und sah meine beste Freundin Clara Willow an ihr knallrotes Cabrio gelehnt, ihr blondes Haar fing das Sonnenlicht ein wie gesponnenes Gold.

Eine Designer-Sonnenbrille verdeckte die Hälfte ihres Gesichts, konnte aber dieses millionenschwere Lächeln nicht verbergen.

„Clara!“, rief ich überrascht und rannte praktisch auf sie zu. „Woher wusstest du, dass ich heute zurückkomme?“

Clara breitete ihre Arme für eine Bärenumarmung aus.

„Bitte, glaubst du, ich würde meine beste Freundin in irgendein zwielichtiges Taxi nach Hause steigen lassen? Oma Margaret hat geplaudert.“

Sie schnappte sich mein Gepäck und warf es wie ein Profi in den Kofferraum.

„Wow! London hat dich also nicht in eine hochnäsige britische Dame der Gesellschaft verwandelt!“

Clara lachte und musterte mich mit diesem scharfen Blick von ihr.

„Aber du hast diese ganz neue Boss-Lady-Ausstrahlung.“

„Ich musste mich weiterentwickeln“, sagte ich und schnallte mich an. „Wie sonst soll ich das bevorstehende ‚Familientreffen aus der Hölle‘ überstehen?“

Bei der Erwähnung der Familie Bailey wurde die lockere Atmosphäre im Auto plötzlich schwer.

Claras Lächeln verschwand und wurde durch einen besorgten Ausdruck ersetzt.

Sie startete den Motor, den Blick fest auf die Straße vor ihr gerichtet.

„Weißt du, ich wollte dich schon immer fragen“, zögerte sie, „was ist vor vier Jahren wirklich passiert? Plötzlich … bist du einfach verschwunden. Hast jeden Kontakt abgebrochen und bist spurlos untergetaucht.“

Ich drehte mich um und sah zu, wie die New Yorker Skyline am Fenster vorbeizog, und spürte diesen vertrauten Schmerz in meiner Brust.

Die Villa der Baileys war einst mein sicherer Hafen gewesen. Sie barg all die Freuden und Sorgen meiner Jugendjahre.

Aber alles änderte sich, als das leibliche Bailey-Kind, Sienna, vor fünf Jahren zurückkehrte.

Ich hatte geschworen, nie wieder einen Fuß in das Haus der Baileys zu setzen.

Aber Margaret – meine alternde Großmutter – war die einzige Person, die ich nicht aus meinem Herzen verbannen konnte.

Sie war die Einzige in der Familie Bailey, die sich wirklich um mich sorgte.

Als ich hörte, dass sich ihr Gesundheitszustand rapide verschlechterte, wusste ich, dass ich zurückkehren musste, trotz allem, was passiert war.

Außerdem habe ich die Antwort von vor vier Jahren immer noch nicht gefunden, und die Familie Bailey schuldet mir noch eine Erklärung.

„Ich werde es dir erzählen, wenn die Zeit reif ist“, sagte ich leise, „aber nicht jetzt, okay? Ich muss … zuerst ein paar Dinge erledigen.“

Clara nickte und griff nach meiner Hand, um sie zu drücken. „Wann immer du bereit bist, ich bin für dich da. Aber bist du sicher, dass du im Haus der Baileys bleiben willst? Meine Wohnungstür steht dir immer offen.“

„Danke, Clara.“ Ich brachte ein kleines Lächeln zustande. „Aber es gibt da ein paar Dinge, die ich dort zu Ende bringen muss.“

Als der Wagen vor dem Anwesen der Baileys hielt, spürte ich, wie sich mein Hals zuschnürte.

Das vertraute Apartmentgebäude an der Upper East Side glänzte noch immer mit seinem gewohnten polierten Schein, ganz wie seine Bewohner – alles nur Oberfläche und Fassade.

„Soll ich mit hochkommen?“, fragte Clara besorgt. „Ich könnte so tun, als gäbe es einen Notfall, und dich retten, falls es unerträglich wird.“

Ich schüttelte den Kopf und schenkte ihr ein dankbares Lächeln. „Ich glaube, ich schaffe das jetzt.“ Ich umarmte sie fest. „Sobald ich mich eingerichtet habe, treffen wir uns mal richtig.“

„Abgemacht“, sagte Clara mit einem Grinsen. „Du schuldest mir ein Abendessen in einem Sternerestaurant und den ganzen Klatsch aus London.“

„Natürlich“, sagte ich lachend, „einschließlich meiner absurden Erlebnisse.“

Claras Augen leuchteten auf. „Oh? London hat also doch mehr zu bieten als nur Nebel und Regen.“

„Du wirst schon sehen“, zwinkerte ich, schnappte mir mein Gepäck. „Danke, Clara. Wirklich.“

Clara war die einzige Freundin, die nach Siennas Rückkehr fest an meiner Seite geblieben war.

„Jetzt werd bloß nicht sentimental“, winkte sie ab, obwohl ihre Augen vor aufrichtiger Sorge funkelten. „Denk dran, wenn du irgendetwas brauchst – egal was –, ruf einfach an.“

Ich nickte und wandte mich dem hoch aufragenden Apartmentgebäude zu.

Jeder Schritt brachte mich meiner Vergangenheit näher, näher den Erinnerungen und den Menschen, vor denen ich so verzweifelt zu fliehen versucht hatte.

Aber dieses Mal war ich nicht mehr das Mädchen, das in Panik geflohen war.

Ich atmete tief durch und drückte auf die Türklingel, während mein Herz raste.

Innerhalb von Sekunden erschien eine vertraute Gestalt an der Tür – Großmutter Margaret trug sich noch immer mit derselben eleganten Haltung, auch wenn ihr silbernes Haar weißer geworden war, seit ich gegangen war.

„Audrey, mein liebes Mädchen!“ Sie breitete ihre Arme weit aus, und Tränen schimmerten in ihren Augen.

Ich ließ mein Gepäck fallen und eilte in ihre Umarmung, atmete ihren vertrauten Duft ein.

„Oma“, sagte ich mit stockender Stimme, „ich habe dich so sehr vermisst.“

„Ich dich auch, mein Schatz“, sagte sie mit erstickter Stimme und rieb mir sanft über den Rücken.

„Perfektes Timing – wir wollten gerade mit dem Abendessen anfangen. Komm, sie warten schon alle.“

Ich holte tief Luft und folgte ihr in Richtung Esszimmer, wobei sich jeder Schritt anfühlte, als würde ich in eine Schlacht ziehen.


Das Esszimmer der Familie Bailey war so elegant wie eh und je, mit feinem Porzellan und silbernen Kerzenleuchtern auf dem langen Mahagonitisch, während klassische Gemälde die Wände zierten.

Als wir eintraten, unterhielten sich meine Pflegemutter Eleanor und meine Schwester Sienna lachend.

Doch in dem Moment, als sie aufblickten und mich sahen, verschwand ihr Lächeln schlagartig, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.

Die Luft im Raum schien zu gefrieren.

Nach einer kurzen Stille.

Dann, genauso schnell, erhellte sich Siennas Gesicht mit einer künstlichen Fröhlichkeit.

Sie sprang auf und eilte mit ausgestreckten Armen auf mich zu.

„Audrey! Oh mein Gott, du bist endlich zu Hause!“, rief sie mit einer Stimme, die vor übertriebener Begeisterung nur so troff.

Als Sienna mich umarmen wollte, verlagerte ich lässig mein Gewicht und machte einen halben Schritt zurück.

Diese subtile Bewegung reichte aus, um ihre Arme ins Leere greifen zu lassen.

Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte Siennas Gesicht, und ihr perfektes Lächeln begann an den Rändern zu bröckeln.

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