Kapitel 3

Perspektive von Audrey:

Sienna erholte sich fast augenblicklich.

„Oh, Audrey“, seufzte sie dramatisch und legte eine Hand auf ihr Herz. „Du hast ja keine Ahnung, wie sehr wir dich vermisst haben. Nicht wahr, Mom?“

Kein Wunder, dass sie Schauspielerin ist.

Ich behielt meinen neutralen Gesichtsausdruck bei, während ich innerlich über ihre theatralische Darbietung die Augen verdrehte.

Ich hatte keinerlei Verlangen, bei ihrer Farce von Familieneinheit mitzuspielen. Aber Margaret zuliebe würde ich eine kühle Höflichkeit wahren. Mehr nicht.

Eleanors Lippen wurden zu einem schmalen Strich, als sie unsere Interaktion beobachtete.

„Audrey“, sagte sie mit diesem vertrauten missbilligenden Ton in der Stimme, „deine Schwester versucht, dich willkommen zu heißen. Das Mindeste, was du tun könntest, wäre, nach all der Zeit etwas Dankbarkeit zu zeigen.“

Bevor ich antworten konnte, durchbrach Margarets gebrechliche Stimme die Spannung.

„Das reicht, Eleanor. Lass das Mädchen doch mal Luft holen. Sie ist gerade erst angekommen.“

Sie streckte ihre von den Jahren gezeichnete Hand nach mir aus, und ihre Augen umspielten Fältchen echter Wärme.

„Audrey, Liebes, komm und setz dich zu mir.“

Ich nahm meinen Platz am langen Esstisch neben Margaret ein. Sie schenkte mir liebenswürdigerweise Sprudelwasser ein.

„Wie war London, Liebes?“, fragte sie mit aufrichtiger Sorge in den Augen. „Du siehst aus, als hättest du ziemlich abgenommen.“

Ich lächelte, als ich das Glas annahm. „Es war in Ordnung.“

Eleanor war sichtlich unzufrieden damit, wie anders Margaret mich behandelte, und stieß ein bitteres Lachen aus.

„Welche Entbehrungen kann sie denn in London erleiden?“

Dann fuhr sie fort: „Wenn wir über Entbehrungen sprechen, sollten wir Sienna danach fragen. Es war wirklich hart, als sie fern von zu Hause gestrandet war, nicht wahr?“

Sienna griff den Hinweis sofort auf und senkte den Blick mit einem mitleiderregenden Ausdruck.

„Mom, bitte sag das nicht.“

Sienna seufzte, ihr Gesicht von Traurigkeit gezeichnet.

„Obwohl meine Tage vor der Rückkehr zur Bailey-Familie tatsächlich ziemlich … schwierig waren, hat mich diese Erfahrung so viel gelehrt und mir geholfen zu wachsen.“

Sie hob den Kopf, Tränen glitzerten in ihren Augen. „Und die Möglichkeit, zu meiner wahren Familie zurückzukehren, macht alles wieder gut.“

Ich konnte mir ein kaltes Lachen nicht verkneifen, während ich diese rührende Mutter-Tochter-Aufführung mit kühler Gleichgültigkeit beobachtete.

Ein Anflug von Unzufriedenheit huschte über Eleanors Augen.

„Was soll diese Einstellung?“

Sienna wandte sich sofort an mich und setzte ihre beste Opferstimme auf.

„Audrey, ich weiß, dass du mich hasst. Schließlich habe ich den Platz eingenommen, der eigentlich dir hätte gehören sollen …“

Ich hatte nicht vor, mich in dieses Drama hineinziehen zu lassen, aber wenn sie darauf bestanden, mich mit hineinzuziehen, würde ich mich nicht zurückhalten.

„Hör auf mit der Show, Sienna“, sagte ich mit einem kalten Lachen. „Niemand will sich deine laienhafte Vorstellung ansehen.“

Eleanor schoss sofort zurück.

„Wie kannst du es wagen, so mit Sienna zu reden! Du bist diejenige, die ihr etwas schuldet! Du hast alles gestohlen, was ihr hätte gehören sollen!“

Sie sprang auf, ihr Finger zitterte, als sie auf mich zeigte.

„Siennas ganzes Unglück ist deine Schuld! Wenn du nicht ihren Platz eingenommen hättest, hätte sie all diesen Schmerz nie erleiden müssen! Sie hätte wie eine Prinzessin leben sollen, anstatt zwanzig Jahre lang ganz unten zu kämpfen!“

Die Atmosphäre wurde schlagartig giftig.

Vor vier Jahren hätten mich solche Anschuldigungen bis ins Mark getroffen, hätten mich nächtelang wach gehalten.

Doch jetzt, als ich Eleanors hysterischen Vorwürfen lauschte, spürte ich nichts als eine innere Leere.

Margaret schlug mit ihrem Gehstock auf den Boden und beendete das Drama. „Genug! Solche Gespräche dulde ich an meinem Esstisch nicht!“

Genau in diesem Moment stieß mein Ziehvater, George Bailey, die Tür auf und kam nach Hause.

Er blickte auf, erfasste mich mit seinen Augen und Überraschung huschte über sein Gesicht.

„Na sieh mal einer an, ist das nicht Audrey Bailey? Ich dachte schon, wir müssten dir eine formelle Einladung schicken, um dich wieder hierher zu bekommen.“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

Ich zuckte nicht zusammen, sondern tupfte mir mit meiner Serviette die Lippen ab.

„Mr. Bailey. Ich heiße jetzt Audrey Lane.“

Georges Gesicht lief vor Wut purpurrot an. „Du!“

Er zeigte auf mich, seine Stimme zitterte vor Zorn. „Wie auch immer. Die Familie Bailey will sowieso keine Tochter wie dich!“

Im Esszimmer wurde es still.

Eleanor beugte sich vor, zupfte sanft an Georges Ärmel und ihre Augen schienen ihm etwas mitzuteilen.

Welche stumme Botschaft auch immer zwischen ihnen ausgetauscht wurde, sie schien eine sofortige Wirkung zu haben. Georges Atmung verlangsamte sich und die Röte auf seinen Wangen wich allmählich.

Er rückte seine Krawatte zurecht und räusperte sich.

„Da du nun zurück bist“, sagte er in einem beherrschten Ton, „solltest du dich darauf vorbereiten, Samuel West bald zu treffen. Sie treffen bereits Vorkehrungen für das Treffen.“

Samuel West. Der Name auf meinem Ehevertrag. Seit fast fünf Jahren mein rechtmäßiger Ehemann und doch ein völlig Fremder.

„Ich habe nicht die Absicht, ihn zu treffen“, sagte ich gleichmütig und schnitt in mein Steak. „Unser Vertrag läuft in drei Monaten aus. Das hat keinen Sinn.“

George schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass die Kristallgläser klirrten.

„Das ist keine Bitte, Audrey. Diese Ehe hat die Bailey Group gerettet. Ist dir nicht klar, was hier auf dem Spiel steht?“

Ich legte Messer und Gabel mit bedächtiger Präzision ab und ließ meinen Blick nicht von Georges Gesicht.

„Oh, ich verstehe sehr gut, was auf dem Spiel steht.“ Meine Stimme war ruhig, fast beiläufig, aber von stählerner Härte durchzogen.

„Was ich nicht verstehe, ist, warum nicht Sienna den Ehering trug, wenn dieses Bündnis für die Familie Bailey so entscheidend war.“

Eleanor setzte ihr Weinglas mit einem scharfen Klirren ab.

„Was bringt es, alte Geschichten wieder aufzuwärmen, Audrey?“, sagte sie mit scharfer Stimme. „Die Ehe wurde geschlossen. Die Verträge sind unterschrieben. Das Bündnis wurde geschmiedet.“

„Was bringt es, sich über diese Dinge Sorgen zu machen?“

Ein kaltes Lachen entfuhr meinen Lippen, hohl und bitter.

„Keinen Sinn?“ Ich sah Eleanor direkt in die Augen, meine Stimme war gefährlich leise. „Ist ein Menschenleben für Sie von Bedeutung?“

Sämtliche Farbe wich aus Eleanors Gesicht. Selbst Sienna konnte für einen Moment ihre geübte Fassung nicht bewahren.

Ich ließ meinen Blick über den Tisch schweifen und sah jedem von ihnen der Reihe nach in die Augen.

„Wenn Sie glauben, ich sei zurückgekommen, um wieder die Rolle Ihres Prügelknaben zu spielen, dann haben Sie sich gewaltig getäuscht.“

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