Kapitel 4 — Im Feuer
Perspektive von Elowen
Das Portal zerriss die Luft wie ein Blitzschlag … lodernd, wild, instabil.
Und dann … kamen sie hindurch. Amaris stolperte als Erste heraus, Blut im Gesicht, einen Dolch in der einen Hand, die Augen weit aufgerissen vor Wut und Panik. Ihre Rüstung war an der Schulter zerrissen und sie rang keuchend nach Luft.
Sie war nicht allein. In ihren Armen, eingewickelt in eine unserer verzauberten Decken, lag sie.
Das Mädchen aus meinem Traum. Die mit den goldbraunen Augen.
Die aus dem verdammten silbernen Käfig.
Sie war schlaff. Kaum bei Bewusstsein. Bedeckt mit blauen Flecken, getrocknetem Blut und Schmutz. Ihre goldenen Augen blinzelten einmal, nur ein einziges Mal … bevor sie zuflatterten.
„NEIN!“, schrie ich und sprang von der Bank auf, bevor meine Beine widersprechen konnten. „Wo ist Taya?! Wo sind die anderen?!“
Amaris sank auf die Knie und umklammerte das Mädchen noch immer wie eine Rettungsleine. „Lucien“, keuchte sie. „Er … er kam durch die Tür. Rylen und Jace haben ihn aufgehalten. Sie haben uns gesagt, wir sollen rennen. Taya …“ Ihre Stimme brach. „Taya ist zurückgegangen.“
Ich konnte nicht atmen. Ich konnte verdammt noch mal nicht atmen.
Sie ist zurückgegangen, flüsterte Lyssira in meinem Kopf und tigerte wie ein wildes Tier auf und ab. Natürlich ist sie das. Diese dumme, wunderschöne Schlampe.
„Nein, nein, nein, nein!!“ Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. Ich streckte die Hand nach dem Portal aus, aber es flackerte instabil. Lachlan umklammerte seinen Stab bereits fester, Schweiß rann ihm die Schläfen hinunter, während er versuchte, es offenzuhalten.
„Sie ist noch drin“, sagte ich mit zitternder Stimme. „Wir müssen zurück.“
„Dann gehen wir“, sagte Daxon, legte bereits seinen Mantel ab und die Stimme seines Wolfes schwang in seiner mit.
„Ich komme auch mit“, knurrte Bram und ließ die Knöchel knacken. „Ich schulde Lucien sowieso einen Faustschlag ins Gesicht.“
„Nein!“, fuhr ich ihn an. „Ich habe euch doch gerade erst wieder! Wenn etwas passiert!“
Daxon nahm sanft mein Gesicht in seine Hände und drückte seine Stirn gegen meine. „Wenn Taya etwas zustößt, werden wir uns das nie verzeihen. Das weißt du.“
Bram küsste mein Haar, der Bär in ihm grollte bereits. „Wir holen sie zurück, El. Ich schwör’s.“
Ich nickte, obwohl meine ganze verdammte Seele schrie. Die beiden drehten sich um und stürzten sich in das Portal, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Lachlan stöhnte auf und verankerte das Tor mit allem, was er hatte.
Dann waren sie weg. Und ich war wieder allein.
Ich ließ mich zurück auf die Bank fallen, meine Nägel gruben sich in meine Oberschenkel, jeder Atemzug war flach und gepresst.
Vaelrix kniete sich neben mich und legte eine klauenbewehrte Hand auf meine Schulter. „Sie werden sie holen. Sie werden sie alle nach Hause bringen.“
„Es sei denn, sie tun es nicht“, flüsterte ich mit brechender Stimme. „Es sei denn, er …“
Nein, schnappte Lyssira. Denk nicht mal daran. Taya ist klug. Bösartig. Schnell. Sie stirbt nicht in Käfigen … sie bricht sie auf.
„Sie ist immer noch da drin“, flüsterte ich. „Sie war genau hier. Sie hätte es fast geschafft.“
Meine Finger ballten sich zu Fäusten. Meine Nägel gruben sich in die Haut. Das Mädchen stand nur wenige Meter entfernt, endlich in Sicherheit. Aber mein Rudel war nicht vollzählig.
Und solange es das nicht war?
War ich es auch nicht.
Perspektive von Taya Quinn
Luciens Turm bebte, Risse zogen sich durch die Wände, Rauch kringelte durch den Korridor und das Geräusch puren Chaos brach direkt vor uns aus.
„Du bist eine verdammte Wahnsinnige“, keuchte Zuki in meinem Kopf. „Ich bin nicht einmal wütend, ich bin nur … Götterverdammt, Taya!“
„Wir lassen sie nicht zurück.“
Ich sprintete, meine Beine brannten, meine Stiefel schlugen auf Stein, als ich um die Ecke bog, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Jace an einer Seite blutete, die Klinge in der Hand, sein Mund zu einem wilden Grinsen verzogen. Rylen stand hinter ihm, die Fänge gefletscht, Schnittwunden auf seiner Brust. Überall Blut. Lucien lachte, verdammt noch mal, er lachte, seine Augen glühten, sein Gesicht war zu einer irren Fratze verzogen. Er sah aus wie etwas Tollwütiges, nicht wie ein Mann.
Er hieb nach Jace aus, und ich schrie. „HEY, ARSCHLOCH!“ Ich schleuderte einen Dolch direkt in seine Schulter. Er bohrte sich tief hinein. Sein Lachen erstarb.
„Dumme Töle“, knurrte er und drehte sich zu mir um.
„Willst du heute sterben?“, schrie ich mit zusammengebissenen Zähnen und hatte bereits eine weitere Klinge gezogen. „Ich hab nämlich Zeit!“
Und dann, als würden Götter herabsteigen, brach Rivena durch den Rauch. Druen an ihrer Seite, Schatten kräuselten sich um ihn. Lazurien folgte ihnen, goldene Ranken wanden sich zu seinen Füßen, als warteten sie nur darauf, entfesselt zu werden.
Lucien knurrte leise. „Dafür werdet ihr alle bluten.“
„Ach, halt die verdammte Klappe“, fauchte Rivena.
Bevor Lucien sich bewegen konnte, stürzte Rylen sich tief auf ihn und rammte ihn gegen die Rippen, sodass er gegen den Pfeiler taumelte. Jace setzte mit einem Klingenhieb nach, der eine Spur schwarzen Blutes auf den Stein tropfen ließ. Ich bewegte mich, um ihn in die Flanke zu fallen … aber Lucien loderte auf. Eine Explosion rot-schwarzer Magie schoss nach außen und traf mich hart in die Seite.
Ich schrie auf, als ich durch den Raum flog, auf dem Boden aufschlug und hart gegen eine Wand rutschte. Heller Schmerz durchzuckte meine Rippen und meine Hüfte, und für einen Moment wurde alles taub.
„TAYA!“, schrie Jace. Ich blinzelte angestrengt. Blut in meinem Mund. Zuki heulte. Alles drehte sich.
Und dann … Lazurien. Rastete aus.
Er stieß einen Laut aus, ein Brüllen, das den Turm erneut erbeben ließ. Seine Gestalt veränderte sich, als Rinde über seine Haut wogte, Ranken seine Glieder umsponnen und seine Augen wie Zwillingssonnen über einem Waldbrand glühten. Er ragte auf, uralt und göttlich, Dryadenmagie explodierte aus seinem Innersten.
Lucien drehte sich um. Und zum ersten Mal starrte dieser selbstgefällige Mistkerl voller Furcht.
Lazurien hob den Arm. „GENUG.“
Die Erde brach auf. Dornenranken, so dick wie Baumstämme, rissen durch die Marmorböden und zerschmetterten die Wände. Sie schraubten sich in die Höhe und schossen auf Lucien zu, schlugen wie wilde Schlangen auf ihn ein.
Lucien schrie. Die Ranken schnappten um seine Arme, Beine und seinen Hals, pressten ihn an die Wand, ließen ihn bluten und erstickten ihn. Die Dornen pulsierten, glühten und summten vor göttlichem Zorn.
Rivena starrte keuchend zu ihrem Gefährten auf. „Das hast du die ganze Zeit zurückgehalten?“
Lazuriens Stimme hallte voller vielschichtiger Macht wider. „Er hat meine Familie verletzt. Ich werde meine Rache auf seinen Knochen wachsen lassen.“
„Oh, Götter“, hauchte Zuki. „Ich glaube, jetzt stehe ich auf ihn.“
Ich lachte, hustete, weil ich Blut im Hals hatte. Doch dann hoben mich starke, ruhige Arme hoch.
Daxon. „Dir geht’s gut“, sagte er und hielt mich, als würde ich nichts wiegen.
Bram war hinter ihm und half bereits Rylen und Jace auf die Beine, zerrte sie in Richtung Innenhof, als der Turm einzustürzen begann.
„Das Portal ist noch offen“, sagte Daxon und umklammerte seine Seite. „Aber nur knapp.“
„BEWEGT EUCH!“, bellte Rylen.
Wir rannten. Das ganze Gebäude stürzte hinter uns ein, Lucien brüllte immer noch, die Ranken zogen sich enger. Wir sprinteten durch zertrümmerte Korridore, durch Flammen, Rauch und Trümmer und stürmten wie kriegsgeborene Geister in den Innenhof.
Das Portal flackerte … schwach, Funken sprühend … Und Lachlan kniete da, das Gesicht blass, die Adern glühten vor magischer Anstrengung, während er es mit allem, was ihm geblieben war, offen hielt.
„LOS!“, brüllte er.
Daxon hielt nicht an, sondern stürmte mit mir in den Armen durch das Tor. Bram folgte ihm und zerrte Rylen und Jace mit sich. Rivena und Druen sprinteten als Nächste hindurch, blutüberströmt. Lazurien kam als Letzter, schrumpfte seine gewaltige Gestalt gerade so weit, dass er hindurchspringen konnte, während sich die Ranken zurückzogen und seine Augen immer noch brannten.
Und dann … BUMM. Das Portal implodierte, als wir hindurchstürzten.
Lachlan brach zusammen. Der Innenhof erbebte. Und wir waren zu Hause.
Gebrochen. Blutend. Aber zu Hause.
Perspektive von Elowen
Ich weiß nicht, wie lange ich den Atem angehalten habe, während ich auf ihre Rückkehr wartete. Und dann … stürzten sie herein.
Jace purzelte hindurch und zerrte Rylen mit einem Arm mit sich, beide voller Schnittwunden und blauer Flecken, keuchend. Daxon und Bram brachen als Nächste durch, Taya schlaff in Daxons Armen. Rivena und ihre Gefährten, Druen und Lazurien, folgten ihnen und sahen aus wie fleischgewordener Zorn. Lazuriens leuchtende Augen knisterten noch immer von der restlichen Erdenmacht.
Und hinter ihnen … schnappte das Portal zu. Lachlan sank mit einem Fluch auf die Knie und ich schrie nach ihm. „Lach!“
Sie hatten es geschafft. Ich stand auf, nun ja, erhob mich halb, auf zitternden Beinen, gestützt auf die Bank, auf der ich gesessen hatte.
„HEILER!“, bellte ich, meine Stimme schärfer als Stahl. „SOFORT!“
Sie rannten bereits. In weiße Roben gekleidet, von Magie erleuchtet. Der halbe Krankenflügel war vorbereitet worden. Wir wussten, dass dies geschehen könnte.
„Bringt Rylen und Jace auf die linke Seite, höchste Priorität, gebrochene Rippen, tiefe Risswunden“, rief ich. „Taya, Hüfte, Rippen, rechte Seite! Behandelt sie wegen innerer Prellungen! Ich will jeden verdammten Scan, den ihr habt!“
Eine Heilerin trat auf das Mädchen zu, das immer noch schlaff in Amaris’ Armen lag.
„Nehmt sie behutsam“, befahl ich mit zugeschnürter Kehle. „Weckt sie nicht auf. Überstürzt nichts. Sorgt einfach dafür, dass sie in Sicherheit ist.“
Amaris blickte mit angespanntem Kiefer zu mir auf. „Sie hat nicht gesprochen. Kein einziges Mal.“
„Ich weiß“, flüsterte ich. „Wir haben sie jetzt.“
Gerade als die Heilerin ein Laken über den zerschundenen, nackten Körper des Mädchens breiten wollte, erschien Isolde. Sie ging nicht. Sie materialisierte sich in einer Welle aus Seide und Mondlicht und sah aus wie des Todes Lieblingstante.
Mit einem Fingerschnippen und einem Wirbel sanfter Macht erschien Kleidung direkt am Körper des Mädchens: ein Etuikleid aus sternenlichthellem Leinen mit schützenden Runen, geschnitten für Komfort, Wärme und Würde.
„So“, sagte Isolde leise. „Niemand wird sie je wieder nackt sehen.“
Meine Augen brannten. Die Heiler hoben sie mit Magie und Sorgfalt an und verschwanden den Gang hinunter in Richtung Gästeflügel.
Ich drehte mich um und packte sofort Brams Arm. „Ich will gehen. Jetzt.“
Er widersprach nicht. Er hob mich hoch, als wäre es das Einfachste auf der Welt, und hielt mich an seine Brust gedrückt, mit dieser gleichen unerschütterlichen Stärke, die niemals nachließ.
„Du wirst immer leichter“, sagte er mit einem neckenden Grunzen. „Vielleicht fange ich an, Kniebeugen mit dir zu machen.“
„Versuch’s doch“, murmelte ich und lehnte meine Stirn an seinen Hals. „Ich furz dir ins Gesicht.“
„Ekelhaft“, murmelte Lyssira. „Und doch … ein valider Punkt.“
Bram kicherte, während er mich durch das Schloss trug. Wachen traten zur Seite. Heiler neigten ihre Köpfe. Ich sagte nichts mehr, ich hielt mich einfach nur fest. Denn das Mädchen war in Sicherheit. Aber sie war nicht heil.
Noch nicht. Wir erreichten das Zimmer, das schummrig und still war, nur von einem sanft leuchtenden Kristall über dem Bett erhellt. Die Luft roch nach Lavendel und Heilsalben. Das Mädchen lag unter einer blassblauen Decke, jetzt sauber, ihr goldbraunes Haar von jemandem mit sanften Händen locker geflochten.
Sie hatte sich immer noch nicht bewegt.
Bram trug mich zur Chaiselongue neben ihrem Bett und setzte mich vorsichtig ab. Er schob ein Kissen hinter meinen Rücken und strich mir das Haar aus dem Gesicht, als könnte er nicht anders.
„Ich sehe nach den anderen“, sagte er leise. „Alles gut bei dir?“
Ich nickte, die Kehle wie zugeschnürt. „Ja. Sag ihnen nur … ich werde hier sein. Wenn sie aufwacht.“
Er küsste meine Stirn und ging dann ohne ein weiteres Wort. Ich zog die Beine an, holte mein Handy heraus und begann, gedankenlos durch Wolfnet zu scrollen, nur um meine Gedanken davon abzuhalten, sich im Kreis zu drehen.
„Sie wird aufwachen“, sagte Lyssira sanft. „Und wenn sie es tut, muss sie etwas Echtes sehen. Keine Angst. Kein Chaos. Dich.“
„Ich werde sie nicht allein lassen.“
Ich legte das Handy weg und … beobachtete sie einfach. Selbst im Schlaf war der Schmerz in jeden ihrer Gesichtszüge eingegraben. Sie sah so jung aus. Zu jung, um überlebt zu haben, was sie durchgemacht hatte.
Aber sie hatte es. Wir beide hatten es. Ich vermutete, wir hatten mehr gemeinsam, als uns beiden bewusst war.
Und jetzt?
Jetzt war sie nicht mehr allein.
