Kapitel 3

ARIA

Die Kopfschmerzen begannen auf der Fahrt zum Morgan Tower. Ein dumpfes Pochen hinter meinen Augen, das mit jedem Häuserblock schärfer wurde.

Ich wühlte in meiner Handtasche nach Schmerzmitteln – dem Paracetamol, das mein Arzt als unbedenklich während der Schwangerschaft empfohlen hatte. Ich fand das Fläschchen.

Zwei Tabletten. Ich schluckte sie trocken hinunter.

Jack wartete bereits auf mich, als ich ankam. „Morgen, Aria. Mr. Morgan will die Quartalsberichte bis Mittag.“

„Ich sorge dafür, dass sie fertig werden.“

Mein Bürotelefon klingelte, noch bevor ich mich überhaupt hingesetzt hatte. Eine unbekannte Nummer.

„Aria Taylor.“

„Hier ist deine Mutter.“

Meine Hand verkrampfte sich um den Hörer. Christine rief mich nur selten bei der Arbeit an.

„Mama. Was ist los?“

„Nichts ist los. Ich schicke dir ein paar Vitamine rüber. Für die Fruchtbarkeit. Mrs. Morgan meinte, du könntest sie vielleicht gebrauchen.“

Natürlich hatte Elizabeth es ihr erzählt. Meine Mutter, seit dreißig Jahren die Haushälterin der Familie Grant, bekam alles mit.

„Ich brauche keine …“

„Du musst dich mehr anstrengen, Aria. Drei Jahre sind eine lange Zeit.“ Ihre Stimme wurde leiser. „Du erinnerst dich, was passiert ist, als du das letzte Mal nicht vorsichtig genug warst.“

Sie meinte jene Nacht. Die Nacht, in der alle glaubten, ich hätte Blake unter Drogen gesetzt.

„Das war nicht …“

„Nimm einfach die Vitamine. Und sei vorsichtiger.“ Sie hielt inne. „Oh, und Emma ist aus Europa zurück.“

Der Raum drehte sich.

„Was?“

„Sie wurde zur Primaballerina beim New York City Ballet ernannt. Sehr prestigeträchtig. Mrs. Grant ist überglücklich.“

Emma. Zurück in New York.

„Mama, ich muss los …“

„Sie ist gestern Abend angekommen. Ich bin sicher, Blake weiß es schon.“

Gestern Abend. Als Blake diesen Anruf bekam und um Mitternacht unser Haus verließ.

„Ich spreche später mit dir.“ Ich legte auf, bevor sie noch mehr sagen konnte.

Ich saß da und starrte ins Leere. Emma Grant. Die Tochter der Familie, der meine Mutter jahrzehntelang gedient hatte. Schön, talentiert, erfolgreich. Alles, was ich nicht war.

Blake hatte sie geliebt, seit wir Teenager waren. Jeder wusste es. Und sie hatte ihn auch geliebt, bis sie nach Europa ging, um ihre Tanzkarriere zu verfolgen.

Das war vor drei Jahren. Kurz bevor Blake und ich heirateten.

Er war gestern Abend zu ihr gefahren. Diese warme Stimme am Telefon. Dieses sanfte Lächeln, das ich bei ihm mir gegenüber noch nie gesehen hatte. All das galt ihr.

Zehn Jahre lang hatte ich ihn geliebt. Drei Jahre Ehe. Und ich hatte nie eine Chance gehabt.

Meine Hand wanderte zu meinem Bauch. Das Kind, das er nicht wollte. Das Kind, das sie ihm schenken könnte, wenn die Dinge anders wären.

Ich zog meinen Puderdöschen hervor und frischte mein Make-up auf. Die Tränen waren noch nicht geflossen. Ich würde es nicht zulassen.

Nicht hier. Nicht jetzt.

An diesem Abend sagte Blake mir, ich solle mich fertig machen.

„Wir gehen in den Midnight Club. Ein Geschäftsessen.“

Der Midnight Club. Wo Manhattans Elite bei zwanzig Jahre altem Scotch und kubanischen Zigarren Geschäfte abschloss.

„Was soll ich anziehen?“

„Etwas Angemessenes.“ Er war bereits auf dem Weg nach oben. „Wir fahren in einer Stunde.“

Ich wählte ein marineblaues Kleid. Schlicht, elegant, unauffällig. Ich wollte im Hintergrund verschwinden.

Blake trug einen anthrazitfarbenen Anzug, der seine eisblauen Augen noch markanter wirken ließ. Er sah mich nicht an, als wir ins Auto stiegen.

Die Fahrt verlief schweigend. Sein Handy summte zweimal. Beide Male wurde sein Gesichtsausdruck weicher, als er die Nachrichten las.

Sie. Es musste sie sein.

Der Midnight Club befand sich im obersten Stockwerk eines Gebäudes in Midtown. Alles dunkles Holz und Leder, gedämpftes Licht und alter Geldadel. Die Art von Ort, an dem bei einem Abendessen Entscheidungen getroffen wurden, die die Stadt prägten.

Blakes Hand ruhte auf meinem unteren Rücken, als wir eintraten. Keine Zuneigung. Nur der Schein.

„Morgan.“ Ein Mann in den Fünfzigern kam auf uns zu. „Schön, dich zu sehen.“

„Orion. Danke, dass du das arrangiert hast.“

Sie unterhielten sich. Ich stand neben Blake, still und dekorativ. Das war hier meine Rolle.

Dann hörte ich eine Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Schau mal, wer da ist.“

Matthew Redwood.

Er kam auf uns zu, ein Whiskeyglas in der Hand. Groß, dunkelhaarig, mit Olivias scharfen Gesichtszügen. Der Erbe des Redwood Medical Center.

Der Bruder meiner Kindheitsfreundin. Der mich jetzt mit purem Hass ansah.

„Morgan“, sagte Matthew. „Bringst du die Tochter eines Mörders mit, um über Geschäftspartnerschaften zu sprechen?“

Die Worte trafen mich mit brutaler Wucht. Mein Rücken versteifte sich.

Stimmt. Ich war die Tochter eines Mörders.

Blakes Hand auf meinem Rücken wurde fester. „Matthew…“

„Ich bin nur überrascht, das ist alles.“ Matthews Blick blieb auf mir haften. „Die meisten Leute haben gewisse Standards, wen sie an solche Orte mitbringen.“

„Sie ist hier, weil Mrs. Morgan darauf bestanden hat.“ Blakes Ton war ausdruckslos, distanziert. Er sah mich nicht einmal an.

„Ah.“ Matthews Lächeln wurde breiter. „Wie wohltätig.“

Ich spürte, wie sich alle Augen im Raum auf uns richteten. Geflüster begann.

„Du solltest deine … Begleitung vielleicht daran erinnern“, fuhr Matthew mit lauter Stimme fort, „dass ihr Vater einen Mann bei einem Unfall unter Alkoholeinfluss getötet hat. Eine Familie zerstört hat. Eine Witwe und zwei Kinder mit nichts zurückgelassen hat.“

Blake sagte nichts. Er stand nur da, den Kiefer angespannt, und starrte an Matthew vorbei auf etwas am anderen Ende des Raumes.

„Will sich niemand dazu äußern?“, Matthew trat näher an mich heran. „Denn ich erinnere mich an eine Zeit, als die Taylors für respektable Familien arbeiteten. Als sie ihren Platz kannten. Bevor einer von ihnen beschloss…“

„Matthew.“ Blakes Stimme war leise, beinahe gelangweilt. „Du machst eine Szene.“

Er verteidigte mich nicht. Er sorgte sich nur um den Schein.

Matthew lächelte. „Ich sage nur, was alle denken. Der Ruf der Familie Morgan hat in den letzten drei Jahren einen ziemlichen Schlag erlitten.“

Ich stand da, wie erstarrt. Jedes Wort schnitt tief. Mein Vater befand sich jetzt im Wachkoma. Sie behaupteten, er sei betrunken gefahren, als er jemanden getötet hatte, aber ich wusste, dass das nicht mein Vater war. Ich war die Tochter eines beschuldigten Mörders, die irgendwie im Haushalt der Morgans gelandet war.

Und Blake würdigte mich keines Blickes.

„Entschuldigen Sie mich.“ Ich trat einen Schritt zurück. „Ich muss mal auf die Toilette.“

Ich ging weg, bevor meine Stimme brechen konnte. Hielt den Kopf hoch. Meine Schritte waren fest.

Blake hielt mich nicht auf. Rief mir nicht nach. Nichts.

Im Badezimmer schloss ich mich in einer Kabine ein und presste meine Faust auf den Mund.

Nicht weinen. Nicht weinen. Gib ihnen nicht die Genugtuung.

Aber die Tränen kamen trotzdem. Still, heiß, gefüllt mit dem Schmerz von drei Jahren.

Mein Vater war ein Mörder. Blake liebte Emma. Ich war schwanger mit einem Kind, das niemand wollte. Und Matthew hatte gerade jeden in diesem Raum daran erinnert, was genau ich war.

Die Tochter eines Mörders, die hier nicht hingehörte.

Und Blake hatte einfach nur dagestanden, geschwiegen und es zugelassen.

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