Kapitel 5
SELENE
Die Kammer war still, bis auf das leise Tropfen von Wasser irgendwo in der Ferne. Ich hielt den Kopf gesenkt, meine Handgelenke schmerzten unter dem Gewicht der Ketten, aber ich spürte, wie Darius mich beobachtete. Seine Gegenwart war erdrückend, schwer von etwas Unausgesprochenem.
Dann trat aus den Schatten eine Gestalt hervor – einer der Seinen, ein Vampir, so blass und hager, dass er halbtot aussah. Er bewegte sich mit unnatürlicher Stille, blieb direkt neben Darius stehen und beugte sich vor, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern.
Darius atmete scharf aus, seine Geduld schwand sichtlich, während er verarbeitete, was ihm gerade zugeflüstert worden war. Sein Kiefer spannte sich an, ein gefährliches Flackern zuckte durch seine Augen, bevor er einen leisen, gereizten Fluch ausstieß.
„Ausgerechnet jetzt …“, murmelte er vor sich hin, richtete sich dann auf und blickte mich scharf und unversöhnlich an.
„Ich muss mich darum kümmern“, sagte er, seine Stimme kalt und knapp.
Darius stieß frustriert die Luft aus und wandte sich zum Gehen. Doch bevor er einen Schritt machen konnte, hob ich den Kopf und zwang meine Stimme, leise und zögerlich zu klingen.
„Kommst du wieder?“, fragte ich, mein Tonfall sorgfältig mit genau dem richtigen Maß an Unsicherheit durchzogen.
Sein Blick schnellte zu mir, unergründlich, abschätzend. Dann, mit einer kaum merklichen Neigung des Kopfes, antwortete er:
„Immer.“
Mein Puls geriet ins Stocken, aber ich machte weiter und blinzelte mit großen, flehenden Augen zu ihm auf.
„Könntest du diese Ketten entfernen lassen?“ Ich bewegte mich leicht und zuckte zusammen.
„Sie tun mir weh …“
Einen Moment lang starrte Darius mich nur an, sein Gesichtsausdruck war unleserlich. Dann seufzte er, fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und murmelte:
„Tch. Na gut.“
Sein Blick wanderte zu den Wachen. „Nehmt ihr die Ketten ab“, befahl er mit knapper Stimme.
„Aber behaltet sie im Auge.“
Die Wachen erstarrten und warfen sich unsichere Blicke zu.
Darius’ Augen blitzten warnend auf. „Fasst nicht an, was mir gehört. Wenn sie auch nur einen einzigen Kratzer mehr hat als jetzt schon, wird euer Leid legendär sein.“
Damit drehte er sich auf dem Absatz um und rauschte aus dem Raum, die schweren Türen fielen hinter ihm ins Schloss.
Sobald er weg war, atmete ich langsam aus und senkte den Blick.
Eine der Wachen trat vor und öffnete mit rauem Griff meine Fesseln. Das Eisen fiel ab und hinterließ raue, brennende Haut, aber ich zuckte nicht zusammen.
„Versuch bloß nichts“, murmelte er und zerrte mich vorwärts.
Ich nickte, hielt den Kopf gesenkt und meinen Körper schlaff. Aber meine Gedanken rasten bereits.
Darius war weg.
Das war meine einzige Chance.
Ich ließ mich von ihnen führen und zwang mich, meinen Atem zu verlangsamen.
Wartete.
Kalkulierte.
Als wir dann um eine Ecke bogen, stolperte ich und sackte zusammen, als hätten meine Beine endgültig nachgegeben.
Die Wache neben mir fluchte und lockerte ihren Griff nur einen winzigen Moment.
Das war alles, was ich brauchte.
Ich bewegte mich schnell, schneller als sie erwartet hatten. Meine Finger schlossen sich um den Dolch an seinem Gürtel, und bevor er reagieren konnte, rammte ich ihm den Griff an die Kehle. Er taumelte würgend zurück.
Die zweite Wache stürzte sich auf mich, aber ich drehte mich weg, glitt an ihm vorbei und rannte den Korridor entlang.
„Fangt sie!“
Ihre Rufe drangen kaum über das Tosen des Blutes in meinen Ohren. Meine Füße hämmerten auf den kalten Stein, mein Atem brannte in meinen Lungen.
Ich konnte sie hinter mir hören, zu schnell, zu nah.
Ich machte eine scharfe Wendung und warf mich in den nächsten Raum. Meine Schulter krachte gegen einen Tisch und stieß eine einzelne flackernde Kerze um.
Der Vampir war direkt hinter mir.
Ich schnappte mir die Kerze und schleuderte sie ihm ins Gesicht.
Er zuckte mit einem wütenden Knurren zurück, als das heiße Wachs auf seine Haut spritzte.
Ich hielt nicht an.
Ich rannte.
Durch die dunklen Hallen, durch endlose Korridore, bis der Geruch von feuchter Erde meine Lungen füllte.
Ein Ausgang.
Ich dachte nicht nach. Zögerte nicht.
Ich riss die Türen auf und stürzte in die Nacht.
Die kalte Luft brannte auf meiner Haut, der Wald erstreckte sich endlos vor mir.
Ich rannte. Und rannte. Und rannte.
...
Die Straßen waren unheimlich still, die Stadt noch in den letzten Momenten des Schlummers gefangen, während die Morgendämmerung über den Horizont kroch. Der Himmel, einst eine endlose Leere aus Schwarz, hatte begonnen, sich in tiefe Violett- und Blautöne zu verwandeln, während die ersten zarten Anzeichen von Sonnenlicht die Kanten der hoch aufragenden Gebäude berührten. Ein paar Frühaufsteher bewegten sich durch die Straßen, ihre Schritte hallten in der Stille wider, aber die Welt musste erst noch vollständig erwachen.
Ich hielt nicht an. Ich konnte nicht.
Ich prallte gegen eine Frau mit zerzaustem rotem Haar und nahm ihren lauten Fluch kaum wahr, als ich mich abdrehte. Mein Gleichgewicht geriet nur für einen Moment ins Wanken, bevor ich mich weiter vorwärtsstieß.
Hinter mir erhoben sich wütende Stimmen über den Lärm – meine Verfolger, die sich ihren Weg durch die Menge bahnten.
„Miststück! Komm sofort zurück!“, bellte einer von ihnen.
Ein paar Leute drehten sich um, ihre Blicke streiften meine zerrissene, schmutzige Kleidung und meine verletzte Haut, aber sie griffen nicht ein.
Ich schoss in eine Gasse, mein Atem ging in unregelmäßigen, keuchenden Zügen. Sobald ich die Menschenmenge hinter mir gelassen hatte, wurde ich schneller, meine Arme pumpten, meine Beine brannten.
Ich riskierte einen Blick über die Schulter.
Sie kamen immer noch näher.
Ich warf mich vorwärts, tiefer in die Gasse hinein. Die Luft war schwer vom Gestank nach Fäulnis und Rauch, der Bürgersteig glitschig vom Regen der vergangenen Nacht. Pfützen spritzten unter meinen Füßen auf, meine Schritte waren ungleichmäßig, während ich rostigen Müllcontainern und weggeworfenem Abfall auswich.
Vor mir erstreckte sich die Gasse etwa zwanzig Meter, bevor sie nach rechts abbog. Ich raste um die Ecke, meine Stiefel schlitterten über den nassen Beton –
Und erstarrte.
Eine fünf Meter hohe Mauer ragte vor mir auf.
Sackgasse.
Panik kroch mir die Kehle hoch, mein Puls war ein wilder Trommelschlag in meinen Ohren. Ich wirbelte herum, meine Augen schossen zum Eingang der Gasse. Sie kamen. Ich hatte nur noch Sekunden, vielleicht weniger.
Dann, jenseits der Dächer, sah ich es.
Der Himmel wurde heller. Das tiefe Indigo hatte begonnen, sich in Gold- und Rosatöne zu verwandeln. Die ersten Anzeichen von Sonnenlicht erstreckten sich über die Skyline und tauchten die Spitzen der Gebäude in einen sanften, goldenen Schimmer.
Sonnenlicht.
Vampire mögen kein Sonnenlicht.
Oder?
Hoffnung durchzuckte mich, scharf und unerwartet.
Ich musste nur noch ein wenig länger überleben. Wenn ich sie aufhalten könnte – wenn ich durchhalten könnte, bis die Sonne vollständig aufgegangen war –, hätte ich vielleicht, nur vielleicht, eine Chance.
Gerade als mir dämmerte, wie absolut am Arsch ich war, hörte ich sie vom anderen Ende der Gasse lachen.
Leises, grausames Kichern, Reißzähne, die unter den flackernden Lichtern der Gasse blitzten.
Warum zum Teufel war ich ausgerechnet in eine Gasse gelaufen? Ich verfluchte mich selbst, während sich mein Magen verkrampfte, als ich in ihre Richtung blickte.
Sie rannten nicht einmal mehr.
„Sieht so aus, als wärst du in einer Sackgasse gelandet“, höhnte einer von ihnen, seine Stimme triefte vor Belustigung.
„All das Rennen, all der Kampf … und wofür? Nur um dich selbst wie ein verängstigtes kleines Kaninchen in die Falle zu locken?“, kicherte er düster, seine Reißzähne blitzten.
„Na los, Süße. Schrei, wenn du willst. Es wird niemand kommen, um dich zu retten.“
Der Größte der Gruppe – ein Vampir mit eingefallenen Augen und blutverschmierten Zähnen – legte den Kopf schief und entblößte seine Reißzähne in einem langsamen, raubtierhaften Grinsen.
„Weißt du was? Ich habe meine Meinung geändert.“ Seine Stimme troff vor Bosheit, seine Pupillen weiteten sich, als der Hunger die Vernunft verdrängte.
„Scheiß drauf“, knurrte er.
„Erledigen wir sie hier und jetzt“, knurrte er, seine Reißzähne glänzten im schwachen Licht.
„Wir vergewaltigen sie, saugen sie leer – bis kein einziger Tropfen Blut mehr in diesem hübschen kleinen Körper ist.“ Sein Grinsen verzog sich grausam.
„Geschieht ihr recht, dass sie versucht hat wegzulaufen.“
Ein widerlicher Chor von „Ja!“-Rufen folgte, ihre Stimmen waren dick vor Erwartung, ihre Schritte beschleunigten sich zu einem trägen Trott.
Die Luft wurde schwerer, dick vom Geruch nach Fäulnis und etwas Metallischem – etwas Falschem. Die Lichter über der Gasse flackerten, als sie näher kamen, ihre Gestalten verschwammen an den Rändern, ihre Geschwindigkeit kaum gezügelt.
Nur einer von ihnen zögerte.
„Sie gehört Prinz Darius“, sagte er, seine Stimme war leiser, aber fest.
„Ihr könnt sie nicht anrühren.“
Die anderen spotteten, ihre Blicke trafen ihn voller Abscheu.
„Verdammter Schwächling“, spuckte einer aus. „Geh woanders seine Stiefel lecken.“
„Ja, verzieh dich, Schoßhündchen.“ Ein anderer grinste und leckte sich über die Reißzähne.
„Wir brauchen deine Erlaubnis nicht.“
Der Zögernde hielt noch einen Moment stand, aber als die anderen vorstürmten, ihre Augen vor Hunger glänzten, fluchte er leise und trat zurück in die Schatten.
Feigling.
Mein Herz hämmerte, aber meine Angst schärfte sich zu etwas Kälterem, etwas Verzweifeltem. Ich konnte nicht an ihnen vorbeirennen, konnte mich nicht zurück auf die Straße drängen. Es gab keine Feuertreppen, keine Türen, die in die Gebäude führten – keinen Ausweg.
Aber ich würde nicht kampflos untergehen.
Ich wich zurück, Zentimeter für Zentimeter in Richtung der Sackgasse, mein Blick huschte über den Boden der Gasse, auf der Suche nach etwas – irgendetwas –, das ich als Waffe benutzen konnte.
Ich wusste, dass man mit ihnen nicht verhandeln konnte.
Das konnte man nie.
