Kapitel 6
SELENE
Ich schob mich um die Ecke, mein Rücken an die kalte Ziegelmauer gepresst, während ich mich Zentimeter für Zentimeter der Sackgasse näherte. Jeder meiner Instinkte schrie, dass es das war. Kein Ausweg mehr.
Meine Augen huschten über den schmutzigen Boden, bis sie auf einem scharfkantigen Stück Holz landeten – vielleicht ein zerbrochener Türrahmen, vielleicht nur zersplittertes Gerümpel. Es war mir egal. Ich riss es an mich, meine Finger umschlossen die rauen Kanten genau in dem Moment, als die vier Vampire um die Ecke bogen.
Einer von ihnen stieß einen leisen Pfiff aus.
„Na, sieh mal einer an. Sie hat sich einen kleinen Zahnstocher besorgt.“
Die anderen kicherten, ihr scharfes Grinsen verzog sich zu breit, zu unmenschlich.
„Was ist der Plan, Süße?“, spottete ein anderer, seine leuchtenden Augen funkelten belustigt.
„Glaubst du wirklich, du könntest uns alle mit diesem kleinen Zweig erledigen?“, höhnte einer von ihnen, und ein langsames, grausames Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Na los, Jägerin. Zeig uns, was du draufhast.“
„Ich warne euch“, sagte ich und zwang Stahl in meine Stimme, obwohl mein Puls in meinen Ohren hämmerte. „Ich habe bereits einen eurer Monsterfreunde in diesem Höllenloch verletzt – vielleicht sogar getötet. Er hat mir das wahrscheinlich auch nicht zugetraut.“
Ich umklammerte das Holz fester und weigerte mich, sie meine Angst sehen zu lassen.
„Ja?“, höhnte ein anderer und neigte den Kopf wie ein Raubtier, das mit seiner Beute spielt. „Und sieh nur, was es dir gebracht hat. Ich hoffe, du hast dir noch ein bisschen Kampfgeist aufgehoben, Süße – denn den wirst du brauchen.“
„Bleibt zurück.“
„Süß“, knurrte einer von ihnen und entblößte seine Reißzähne zu einem hungrigen Grinsen.
„Wir sind zu viert, kleiner Mensch“, stichelte ein anderer und machte einen langsamen Schritt auf mich zu. „Und du bist allein.“
„Vielleicht hast du Glück, vielleicht kratzt du sogar einen von uns mit deinem kleinen Zweig, bevor wir ihn dir aus deinen zitternden Händen reißen.“ Sein Lächeln wurde breiter, die Reißzähne blitzten auf.
„Aber was dann?“
Ich schluckte schwer.
Verdammt. Er hat recht.
„Dann werden die Übrigen von uns ihren Spaß haben“, säuselte ein anderer und ließ seine Zunge über einen scharfen Reißzahn gleiten.
„Und glaub mir, Liebling, die Art, wie wir spielen, wird dir nicht gefallen.“
Denk nach, Selene. Denk nach. Tu etwas. Tu etwas!
Bevor mein Verstand einen Plan fassen konnte, stürzte sich einer von ihnen nach vorn.
Der Instinkt übernahm die Kontrolle. Ich schwang das scharfkantige Holzstück so fest ich konnte, und das zersplitterte Ende traf ihn mit einem widerlichen Knacken an der Schläfe. Ein rostiger Nagel, der halb im Holz steckte, bohrte sich geradewegs durch seinen Schädel. Seine roten Augen weiteten sich schockiert – nur für eine Sekunde –, bevor sein Körper erstarrte.
Dann begann er zu zerfallen.
Seine Haut wurde grau und riss wie verbranntes Papier, seine Adern schwärzten sich unter der Oberfläche. Sein Mund öffnete sich, ein erstickter Laut entwich ihm, doch bevor er mehr tun konnte, als zurückzutaumeln, zerfiel sein Körper. Knochen, Fleisch, alles – es brach direkt vor meinen Augen zu Asche zusammen.
Ich keuchte und stolperte zurück.
Heilige Scheiße. Ich habe gerade – ich habe gerade –
Die anderen drei Vampire erstarrten, ihre Belustigung verflog augenblicklich. Ihre leuchtenden Augen weiteten sich, ihre Körper wurden steif, als etwas Ursprüngliches unter ihrem Schock hervorzukriechen begann – etwas, das gefährlich nah an Angst grenzte.
„Was zum Teufel …“, zischte einer von ihnen, sein Blick wanderte zwischen mir und dem Aschehaufen zu meinen Füßen hin und her, als weigere sich sein Verstand zu begreifen, was gerade geschehen war.
„Sie hat ihn getötet!“, knurrte ein anderer mit entblößten Reißzähnen, doch die übliche Arroganz in seiner Stimme war gebrochen und durch Unglauben ersetzt worden. „Ein Mensch – ein verdammter Mensch – hat einen von uns erledigt?“
„Das ist doch ein Witz, oder?“, murmelte der Dritte, seine Stimme von Unbehagen durchzogen.
„Das kann nicht sein –“
Ich umklammerte das Holz fester, mein Atem ging schnell und flach.
„Bleibt zurück, ihr Wichser“, warnte ich und hob die Waffe zwischen uns.
„Ich schwöre, ich tue es wieder.“
Der Anführer, oder zumindest derjenige, der das Sagen zu haben schien, trat mit einem lässigen, selbstsicheren Grinsen vor. Langsam schob er seinen Mantel zurück und enthüllte ein langes, glänzendes Schwert, das an seiner Seite befestigt war.
„Du bist nicht die Einzige mit einer Waffe, Liebling“, sagte er gedehnt und zog die Klinge in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung. Das Metall fing das schwache Licht der Gasse ein, seine Schneide war bösartig scharf.
Ich blickte auf das zerbrochene Stück Holz in meiner Hand, dann wieder auf sein Schwert. Meine Lippen verzogen sich verärgert.
„Angeber“, murmelte ich leise.
Er kicherte und wirbelte die Waffe mit geübter Leichtigkeit herum.
„Oh, das hier?“, spöttisch neigte er den Kopf. „Das ist nur zum Spaß. Wir brauchen keine Klingen, um dich zu zerreißen.“
Die anderen beiden Vampire kicherten düster, während ihre leuchtenden Augen hungrig meine Gestalt musterten.
„Aber zuerst“, fuhr der Anführer fort und seine Stimme nahm einen noch heimtückischeren Ton an, „haben wir noch eine kleine offene Rechnung.“ Sein Blick wurde raubtierhaft und musterte mich auf eine Weise, die mir den Magen umdrehte.
„Wir können dich tot oder lebendig ficken, Süße. Du hast die Wahl.“
„Fickt euch“, spuckte ich aus und umklammerte meinen behelfsmäßigen Pflock fester.
Gelächter brach um mich herum aus und hallte von den Gassenwänden wider wie das Klirren rostiger Ketten.
Der Anführer seufzte und schnalzte mit der Zunge.
„Widerspenstig bis zum Schluss. Das liebe ich.“ Seine Lippen verzogen sich, doch in seinen Augen zuckte etwas anderes auf – etwas Wachsames.
Dann wurde sein Gesichtsausdruck ungeduldig und sein Blick huschte zum Eingang der Gasse, als erwarte er, dass sich dort jeden Moment ein Schatten materialisieren würde.
„Genug Zeit verschwendet. Wir müssen jetzt los, bevor Prinz Darius merkt, dass sein kleines Schoßhündchen fehlt. Wenn er es herausfindet …“ Er brach ab und seine Kiefermuskeln spannten sich an.
„Nein. Wir beenden das, bevor er uns beendet.“
„Ja“, murmelte einer der anderen, obwohl sein Blick nervös durch die Gasse wanderte, als erwarte er, dass jeden Moment ein Schatten aus der Dunkelheit springen würde. „Wenn wir unseren Spaß hatten und dich trockengelegt haben, werfen wir das, was übrig ist, in die Gosse. Oder noch besser – wir verbrennen dich zu Asche. Keine Leiche, keine Beweise … nichts, was er finden könnte.“
Seine Stimme war von grausamer Belustigung durchzogen, doch darunter lag ein unverkennbarer Hauch von Angst.
„Bringen wir es hinter uns“, murmelte der Anführer. „Wir haben schon genug Zeit mit dieser hier verschwendet.“
Und dann bewegten sie sich.
Wie Schlangen, die sich entrollen, stürzten sie sich wie ein Mann auf mich.
Verzweifelt schwang ich mein Holzstück und schaffte es, es einem von ihnen mit einem befriedigenden Knacken in die Rippen zu rammen. Aber es war nicht genug. Hände packten mich von hinten, ein eiserner Griff schloss sich um meinen Hals und riss mich zurück. Meine Waffe wurde mir aus der Hand gerissen und in die Dunkelheit geschleudert.
Ich trat wild um mich, aber mein Strampeln half nichts. Mein Peiniger verstärkte seinen Griff, sein Arm legte sich wie ein Schraubstock um meinen Hals.
Festgenagelt.
Gefangen.
Der Anführer grinste, als er näher kam und bereits die Knöpfe seiner Hose öffnete. „Ich bin der Erste. Keine Widerrede.“
„Na gut, dann bin ich der Zweite“, zuckte ein anderer mit den Schultern.
„Was zur Hölle? Ich bin der Letzte?“, stöhnte der, der mich festhielt, protestierend auf.
„Halt die Klappe und mach deinen Job“, schnauzte der Anführer und trat vor.
Ich zappelte und trat aus, aber der Arm um meinen Hals zog sich nur fester zu und schnürte mir die Luft ab.
„Na, na“, säuselte mein Peiniger mir ins Ohr, sein Atem stank nach etwas Altem und Verrottetem.
„Sei schön brav, sonst wird es ungemütlich.“
Panik durchflutete mich, roh und blendend.
„Hört auf!“, keuchte ich mit rauer Stimme.
„Hört auf! Jemand – Hilfe!“
Der Anführer stieß ein leises, heiseres Lachen aus, sein Griff wurde fester, als er sich über mich beugte.
„Niemand in dieser Stadt schert sich einen Dreck um dein Geschrei, kleines Lamm“, höhnte er.
„Wir alle verrotten in der Dunkelheit. Was ist schon eine weitere Gräueltat in einer endlosen Ewigkeit der Sünde?“
Seine kalten Hände packten meinen Körper, seine Finger krallten sich in den Bund meiner Hose, bereit, sie herunterzureißen –
Und dann pfiff etwas durch die Luft.
Ein Schemen. Ein silbernes Aufblitzen.
Der Dolch traf, bevor ich überhaupt begriff, was geschah, und bohrte sich mit einem widerlichen Geräusch tief in den Hinterkopf des Anführers.
Er erstarrte.
Sein Körper wurde steif, seine Hände zogen sich augenblicklich von mir zurück. Eine fassungslose Stille breitete sich in der Gasse aus, als er zurücktaumelte und seine Finger zuckend zum Griff tasteten, der aus seinem Kopf ragte, als hätte sein Gehirn noch nicht begriffen, dass er bereits tot war.
Und dann – einfach so – zerfiel er zu Staub.
„Was zum …!“, knurrte der Vampir, der mich festhielt, und sein Griff lockerte sich für einen Moment.
„Was zur Hölle?!“, zischte ein anderer und wirbelte zur Quelle des Angriffs herum.
Ich schnappte nach Luft, meine Brust hob und senkte sich heftig, während meine weit aufgerissenen Augen zum Eingang der Gasse schnellten.
Dort, inmitten des wirbelnden Dampfes und der Schatten, stand eine hoch aufragende Gestalt.
Gewaltig. Unerschütterlich. Ein Monster, furchterregender als die, die mich gerade hatten verschlingen wollen.
Er trat vor, das schwere Geräusch seiner Stiefel hallte auf dem Pflaster wider. Die schummrigen Lichter der Gasse berührten ihn kaum, aber das wenige, was sie enthüllten, jagte meinen Peinigern einen heftigen Schauer über den Rücken. Eine ärmellose Weste spannte sich über breite Schultern, dunkle Hosen schmiegten sich an kräftige Beine, und diese Stiefel – schwarz, brutal, gemacht, um Knochen zu zertrümmern.
Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Musste ich auch nicht.
Ich wusste es bereits.
Prinz Darius.
