Kapitel 1 - Die besten Wünsche
Amaias Perspektive
„Lass los!“, schrie ich und versuchte, mein Handgelenk aus dem Griff meiner Stiefmutter Darna zu befreien. „Du tust mir weh!“
Es war das erste Mal, dass sie mir gegenüber körperlich wurde. Sie hatte nie zuvor ihre Stimme gegen mich erhoben.
Darna grub ihre Nägel tiefer in meine weiche, makellose, weiße Haut, was mich vor Schmerz aufwimmern ließ.
„Was ist los, kleine Amaia?“, höhnte sie. Ihre grünen Augen funkelten vor Aufregung. „Kannst du ein bisschen Schmerz nicht ertragen? Ist das zu viel für dich?“
Ich zuckte bei ihrem Ton zusammen und zwang meinen Blick, sich auf sie zu richten. Etwas hatte sich verändert. Sie war nicht mehr die liebevolle und beschützende Stiefmutter, die ich einst kannte.
Ein höhnisches Lächeln breitete sich auf Darnas Lippen aus, als sie mich zurückdrängte. Sie wusste, dass ich nicht die Kraft hatte, gegen sie zu kämpfen. Ich hatte keinen Wolf geerbt.
Darna schob mich weiter zurück, bis meine Fersen den kalten und rauen Steinsaum des achtstöckigen Rudelhauses berührten.
Panik stieg in mir auf, meine Augen weiteten sich und mein Herzschlag beschleunigte sich – ein Fehltritt könnte mein Ende bedeuten.
Was könnte Darnas Grund sein, mir das anzutun?
Ich war auf das Dach gekommen, um meinen Kopf frei zu bekommen, wie ich es immer tat, wenn ich traurig, verletzt oder verraten war – es war kein Geheimnis unter den Rudelmitgliedern.
Heute Nacht war es nicht anders!
Ich war hierher gekommen, um den Tumult und den Verrat in meinem Herzen zu verstehen.
Ich hatte gerade gesehen, wie mein Gefährte meine Stiefschwester in unserem Bett fickte – ihre Stöhnen stachen immer noch wie ein Messer in mein zartes Herz.
Wie konnte mein Gefährte mich so verraten?
Tränen stiegen mir in die Augen; der Schmerz war echt und noch frisch in meinem Herzen.
„Darna“, flüsterte ich unruhig. „Was machst du? Ich bin viel zu nah am Rand. Ich werde fallen, wenn du mich weiter drückst. Du weißt, dass ich mich nicht verwandeln kann und –“
„Genau deswegen stehst du am Rand“, sagte sie kalt.
„Ich... ich verstehe nicht!“, stotterte ich nervös, mein Körper verriet meine Gefühle.
Ich war nicht bereit, mein Ende zu treffen. Ich wollte nicht sterben!
„Ich bin überrascht, dass ein so kluges Mädchen wie du noch nichts herausgefunden hat“, sagte sie.
Ihre eisigen Worte überraschten mich.
Was meinte sie damit?
Wollte sie, dass ich sterbe?
Mein Verstand wurde ein Chaos – es konnte nicht sein, dass Darna mich einfach verletzen wollte.
Ich schob diese beunruhigenden Gedanken beiseite – Darna hatte mich all die Jahre gut behandelt. Sie war meine neue und liebevolle Mutter.
„Ich... ich verstehe nicht“, rief ich aus, Adrenalin pumpte durch meine Adern. „Bitte, Darna. Bitte lass mich los!“
„Dummes Mädchen“, sagte sie und warf ihren Kopf zurück, um zu lachen.
Ein kaltes Gefühl lief mir den Rücken hinunter, stellte jedes Haar auf meinem Körper auf und ließ mich zittern. Das Geräusch ihres Lachens klang so kalt, so hohl, so unheimlich, so böse.
„Ich muss dich in ein kleines Geheimnis einweihen“, sagte sie und zog mich näher zu sich. Ihr warmer Atem strich über mein Ohr und ließ mich unwillkürlich zittern, als wäre mir kalt.
„Ich“, sagte sie und leckte sich die Lippen, während sie jedes Wort langsam aussprach. „Ich bin verantwortlich für jede schreckliche Sache, die dir in den letzten Jahren passiert ist...“
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schock.
So viele unerklärliche Dinge sind mir in den letzten drei Jahren passiert. Ich glaubte, dass meine Unglücke einfach auf Pech zurückzuführen waren und dass die Göttin mich bestrafte.
Wie konnte Darna hinter all meinem Schmerz und Leid stecken?
„W-was sagst du da?“ stotterte ich, während mir die Tränen in den Augen brannten.
„Ich habe jeden Vorfall geplant“, sagte sie stolz. „Ich habe sogar dafür gesorgt, dass dein Vater ein schreckliches und qualvolles Ende fand...“
Meine Augen weiteten sich, als mir die Luft aus den Lungen wich.
Sie steckte hinter dem Angriff der Abtrünnigen! Sie hat meinen Vater getötet. Es war kein Unfall; sie hat ihn ermordet!
Alles Leben wich aus mir.
„W-warum?“ stotterte ich schockiert. Warme Tränen liefen über mein Gesicht. „Warum tust du so schreckliche und unmenschliche Dinge? Warum tötest du deinen Gefährten? Wir haben nichts getan, um das zu verdienen!“
Darna neigte den Kopf zur Seite.
„Es ist nichts Persönliches“, sagte sie. „Es ist nur Geschäft. Dein Vater wusste zu viel. Ich hatte keine andere Wahl, als ihn loszuwerden. Und jetzt bist du an der Reihe. Wenn du aus dem Weg bist, kann meine kostbare Lillian Luna werden und mit ihrem Schicksalsgefährten Oregon zusammen sein...“
„Oregon?“ keuchte ich überrascht, als ich den Namen meines Mannes hörte. „Er war eingeweiht?“
Darna nickte mit einem Lächeln.
Die Erkenntnis traf mich: Oregon hatte mich benutzt, um an den Alpha-Titel zu kommen – ohne mich konnten sie die Kontrolle über das Rudel nicht übernehmen.
Wie dumm von mir! Ich hätte merken müssen, dass alles zu perfekt schien, um wahr zu sein.
Meine Gedanken eilten zurück zu meiner ersten Begegnung mit Oregon – Lillian stellte uns eine Woche nach meinem siebzehnten Geburtstag vor. Ich kämpfte gerade mit der Erkenntnis, dass ich nicht mit einem Wolf gesegnet war. Oregon war ein Retter in meinen schwierigsten Momenten. Er gab mir Hoffnung. Er ließ mich geliebt fühlen. Er beschützte mich. Bald fand ich Trost bei Oregon.
Meine Gedanken wanderten zu meinem Vater. Er war der Alpha des Night Sky Rudels und wurde ein paar Monate nach meiner Nicht-Verwandlung bei einem Angriff der Abtrünnigen getötet. Er liebte Darna und verehrte sie.
Wieder einmal war Oregon an meiner Seite, um mich zu trösten und zu unterstützen.
Unsere Beziehung wuchs, und bald war ich hoffnungslos in ihn verliebt.
Ich vertraute ihm alles an.
Ich glaubte alles, was er mir sagte.
Doch Lillian und Oregon tauschten häufig verstohlene Blicke aus. Ich stellte ihn zur Rede, und er sagte mir, ich sei wahnhaft und eifersüchtig.
Als die Tage nach dem Tod meines Vaters in Monate übergingen, wurde der Rat langsam ungeduldig.
Ich war die einzige Erbin, und ich musste meinen Platz einnehmen. Doch ich konnte das Rudel nicht ohne einen Alpha führen.
Darna schlug vor, dass ich Oregon als meinen Gefährten nehme. Ich stimmte törichterweise zu.
Schau mich jetzt an!
Einen Moment lang schloss ich die Augen. Ich hatte allen um mich herum so blind vertraut. Ich hatte mir diese Erfahrung selbst eingebrockt.
„Das ist ein Abschied, Amaia“, sagte Darna. „Grüß deinen Vater von mir!“
Plötzlich fühlte ich mich schwerelos, der Wind pfiff mir um die Ohren.
Darna hatte mich über die Dachkante gestoßen. Mit einem breiten, kalten Lächeln winkte sie mir hinunter.
Ich schaue zu ihr hoch... Ich wollte das Bild von ihr, wie sie dort stand, in mein Gedächtnis brennen. Ich wollte mich an die Gestalt erinnern, die mich in den Tod geschickt hat...
Stumm schwor ich, sie in meinem nächsten Leben zu rächen.
Ein lautes, böses Lachen hallte von oben, Sekunden bevor mein Körper auf dem kalten, harten Pflaster aufschlug...
























































































