Kapitel 6 Gekreuzte Wege

Als Mia Harrisons Reaktion sah, dachte sie, dass er sich wirklich um Lily kümmerte – er war ein guter Vater.

Moment mal.

Lily hatte ihr erzählt, dass sie und Harrison einen Vaterschaftstest gemacht hatten, der bestätigte, dass sie biologisch verwandt waren. Lily war sehr wahrscheinlich ihre eineiige Schwester.

Wenn das der Fall war, könnte dieser Mann möglicherweise auch ihr und Connors biologischer Vater sein?

Plötzlich stellte sich Mia unzählige Möglichkeiten vor.

Nach Harrisons Rüffel hielt Mandy so verängstigt den Atem an.

Harrison sah aus, als könnte er sie tatsächlich töten. Sie musste einen Weg finden, diese Krise zu entschärfen.

Mandy tat so, als könne sie ihre Reue nicht unterdrücken, und während sie ihre Wut bekämpfte, umarmte sie die weinende Mia fest.

Mias kleiner Körper versteifte sich sofort, völlig überrumpelt.

Bevor Mia verstehen konnte, was geschah, hallte Mandys Wehklagen über ihrem Kopf wider, ihre Stimme schien von aufrichtiger Reue erfüllt zu sein.

„Lily, es tut mir so leid. Ich habe gerade nicht aufgepasst. Es war wirklich ein Unfall“, schluchzte Mandy.

Sie fügte hinzu: „Du bist meine kostbarste Tochter. Ich habe dich neun Monate lang getragen und sogar einen Kaiserschnitt gehabt, um dich auf die Welt zu bringen. Wie könnte ich dich absichtlich verletzen? Es war wirklich ein Unfall. Bitte vergib mir nur dieses eine Mal, okay? Ich verspreche, es wird nicht wieder vorkommen. Ich liebe dich.“

Mandys dramatische Darstellung mütterlicher Liebe schien Harrisons Ausdruck leicht zu mildern. Die einschüchternde Aura um ihn herum ließ endlich nach, wenn auch nur geringfügig. Trotz ihres jungen Alters spürte Mia die Veränderung in der Atmosphäre.

Sie verstand die Komplexität der Erwachsenenwelt nicht, aber sie verstand grundlegenden Selbstschutz. In diesem Moment schwieg sie.

Simon bemerkte die Situation und trat näher, senkte seine Stimme und vermittelte vorsichtig.

„Herr Frost, Frau Reed ist immer noch Lilys leibliche Mutter. Selbst die wildesten Tiere verletzen ihre eigenen Nachkommen nicht. Ich bin sicher, sie hat es nicht absichtlich gemacht.“

Er hielt inne, runzelte die Stirn und warf einen besorgten Blick auf den roten Fleck an Mias Arm. „Die Haut von Kindern ist so empfindlich – manchmal merken Erwachsene nicht einmal ihre eigene Stärke. Vielleicht sollten wir uns darauf konzentrieren, wie wir Dr. Johnson erreichen können.“

Harrison atmete tief durch und unterdrückte die Wut in seinem Herzen. Er blickte auf die stille Mia in seinen Armen hinunter. Dann wandte er sich mit einem komplexen Blick schließlich kalt an Mandy.

„Denk daran, das ist das letzte Mal.“

Diese einschüchternde Warnung ließ Mandy innerlich zittern.

Glücklicherweise war die unmittelbare Krise vorüber. Sie nutzte die Gelegenheit schnell und zeigte ein sanftes und freudiges Lächeln, während sie hastig versprach: „Ich verstehe, Harrison. Ich versichere dir – es wird absolut nicht wieder vorkommen!“

Um ihre mütterliche Liebe zu demonstrieren, streckte sie die Arme nach Mia aus und bemühte sich, ihren Ton zu mildern. „Komm, lass uns Dr. Johnson suchen. Lily, Schatz, lass Mama dich halten.“

Doch angesichts der ausgestreckten Arme zuckte Mia wie ein verängstigtes Kaninchen zurück. Die erstickende Umarmung und das widerliche Parfüm waren noch in ihrer Erinnerung.

Ohne zu zögern drehte sie sich um, vergrub ihr kleines Gesicht gegen Harrisons breiter, solider Brust und klammerte sich verzweifelt an sein Hemd.

Diese stille Geste war die entschlossenste Ablehnung.

Unterdessen hingen Mandys Hände peinlich in der Luft, ihr Lächeln verwandelte sich in einen Ausdruck von Demütigung und Eifersucht.

Harrison ignorierte sie völlig und passte nur seine Umarmung an, um Mia besser zu stützen – eine Hand fest unter ihrem Po, die andere schützend über ihrem kleinen Rücken, sanft beruhigend.

Mit Mia im Arm drehte er sich in Richtung Operationssaal und hinterließ nur eine ruhige, aber entschlossene Aussage.

„Los geht's.“

Beim Betreten des Operationssaals schlug ihnen sofort der starke Geruch von Desinfektionsmittel entgegen.

Der Raum war extrem hell und beleuchtete die kalten Metallinstrumente und mehrere Krankenschwestern, die ihre Arbeit verrichteten.

In diesem Moment erlosch die Hoffnung, die gerade in Harrisons Augen aufgeflammt war, abrupt und verwandelte sich schnell in unterdrückte Wut, die jederzeit ausbrechen konnte.

Er verweilte nicht, sondern drehte sich sofort um und ging.

„Simon, suche weiter. Verwende alle notwendigen Mittel, selbst wenn du die ganze Stadt auf den Kopf stellen musst, finde Dr. Johnson!“

„Ja, Herr Frost! Ich mache mich sofort daran!“ Simons Stirn brach in Schweiß aus, als er sich schnell umdrehte und eilte davon.

Harrisons Gruppe ging auf den Aufzug zu, Mandy folgte vorsichtig hinterher, sogar ihr Atem schien gemessen und vorsichtig.

Auf dem Parkplatz fühlte sich die Luft abgestanden an.

Gerade als Harrisons Auto startete und langsam auf den Ausgang zusteuerte, fuhr ein roter Sedan aus der angrenzenden Spur heran.

Für die kurzen Sekunden, in denen ihre Fenster auf gleicher Höhe waren, schien die Zeit stillzustehen, wie in einem Film.

Durch die Windschutzscheibe fiel Mandys Blick direkt auf den Beifahrer im gegenüberliegenden Auto.

Mandys Pupillen zogen sich scharf zusammen, und ihr Gesicht verlor jede Farbe.

Es war Elena. Diese Schlampe war tatsächlich zurückgekehrt!

Gleichzeitig bemerkte Elena Mandy. Sie warf ihr nur einen kurzen, emotionslosen Blick zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit woanders hinlenkte.

Diese Gelassenheit war für Mandy selbst eine stille Qual.

Charlotte fuhr das Auto, völlig ahnungslos gegenüber den Menschen im vorbeifahrenden Fahrzeug. Sie blickte in den Rückspiegel auf die beiden kleinen, entzückenden Kinder und ihre Stimmung hellte sich sofort auf.

„Mia, Connor, kommt her, lasst mich euch küssen! Nein, drei Küsse!“

Connor, der auf dem Rücksitz saß, setzte sofort eine reife Miene auf. „Patentante, ein Kuss reicht, und du verlangst drei! Außerdem sagt mein Lehrer, dass Jungen und Mädchen Grenzen wahren sollen. Ich muss ablehnen!“

Charlotte brach in Gelächter aus bei seiner Antwort und neckte ihn absichtlich. „Du kleiner Frechdachs, wie alt bist du, um über Geschlechtergrenzen zu sprechen? Lehnst du mich etwa ab?“

Sie nickte in Richtung Rücksitz. „Mia, komm schon! Hilf mir, deinem Bruder das Ohr zu ziehen und ihm eine Lektion zu erteilen!“

Charlotte war es gewohnt, mit den Kindern zu scherzen. Normalerweise sprang die lebhafte Mia auf Connors Kommando hin und brachte alle zum unkontrollierten Kichern.

Heute jedoch war das kleine Mädchen auf dem Rücksitz wie ein verängstigter Vogel, ihre großen Augen voller schüchterner Fremdheit und Angst.

Sie wagte es nicht, sich zu bewegen oder zu sprechen, und sah instinktiv zu Elena auf dem Beifahrersitz.

Diese Figur strahlte eine solch sanfte, beruhigende Wärme aus, dass sie sich nur wünschte, jede Minute in ihrer Umarmung zu bleiben und sich nie wieder zu trennen.

Connor bemerkte ihr ungewöhnliches Verhalten.

Als Zwillinge kannte er Mia besser als sich selbst.

Aber diese „Mia“ hatte sich seit dem Einsteigen ins Auto still in die Ecke gekauert, wie ein verängstigtes kleines Tier. Am auffälligsten war, dass ihre kleinen Hände unbewusst am Saum ihres Kleides zogen, bis der Stoff zerknitterte.

Das war etwas, was Mia nie tat.

Ein seltsamer, aber klarer Gedanke tauchte auf; dieses Mädchen war nicht seine Schwester Mia.

Mehrere Dutzend Minuten später hielt Charlottes Auto reibungslos vor dem luxuriösesten Hotel von Pinewood City.

Nachdem sie eingecheckt hatten, kehrte Charlotte ins Zimmer zurück und schenkte Elena ein Glas warmes Wasser ein. „Elena, bezüglich dessen, was du mich gebeten hast zu untersuchen, habe ich Fortschritte gemacht. Ich habe eine Haushälterin namens Bronte Langley gefunden – sie ist meine Verwandte. Sie ist außergewöhnlich effizient, sauber, gutherzig und macht wunderbare Suppe. Sobald du dich eingelebt hast, werde ich sie herholen.“

Elena nickte, ihre Augen zeigten Dankbarkeit.

„Es gibt noch eine Sache, bezüglich des Kindes, das du mich gebeten hast zu finden.“ Charlotte zögerte und sagte: „Ein Freund von mir sagt, er glaubt, ein Kind in Pinewood City gesehen zu haben, das Connor und Mia sehr ähnlich sieht. Allerdings konnte er nicht genau bestätigen, wo.“

„Natürlich“, fügte Charlotte hinzu, „werde ich weiter suchen. Ich werde keine Spur, egal wie klein, übersehen.“

Bei der Erwähnung von „Kind“ wurde Elenas Ausdruck sofort ernst, als sie die Stadtlichter draußen betrachtete und in Gedanken versank.

Nach einiger Zeit wandte sich Elena wieder Charlotte zu. „Beeil dich nicht mit der Sache des Kindes. Lass uns das langsam angehen. Im Hotel zu bleiben ist sicherlich keine langfristige Lösung. Das Haus, das meine Mutter mir hinterlassen hat – hast du die Renovierung arrangiert?“

Als Elena die Immobilie erwähnte, schien das zuvor helle Licht in Charlottes Augen überschattet zu sein und merklich zu dimmen.

„Elena, es tut mir leid, ich…“ stammelte sie und enthüllte schließlich die Wahrheit. „Ich hatte bereits Arbeiter gefunden und geplant, es richtig zu renovieren. Aber als ich sie dorthin brachte, stellte ich fest, dass jemand im Haus wohnte.“

„Jemand hat mein Haus übernommen? Wer?“ Elena starrte Charlotte an, ihr Ausdruck verdüsterte sich.

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