Kapitel 2
An dem Blick in den Augen meiner Mutter wusste ich bereits, wer gerade den Raum betreten hatte, und als sich ihre Züge plötzlich veränderten und weich wurden, gab es keinen Zweifel mehr daran, wer hereingekommen war.
„Oh, willkommen, mein Schatz!“, sprudelte sie hervor, ein breites, falsches Lächeln auf dem Gesicht, als sie an mir vorbeiging und sich neben ihren Ehemann stellte. „Ich wusste nicht, dass du auch so bald nach Hause kommst.“
Ich drehte mich langsam um, um ihnen gegenüberzutreten, und meine Augen weiteten sich leicht, als ich den Mann sah, der vor mir stand. Er war groß, vielleicht eins neunzig, breitschultrig und gutaussehend, mit silbernen Strähnen, die sich in sein schwarzes Haar mischten.
Ich muss zugeben, Mama hatte damit den Jackpot geknackt.
„Hallo, Sir“, sagte ich, ohne mir die Mühe zu machen, mein Gesicht freundlich wirken zu lassen oder auch nur irgendeine Emotion in meiner Stimme zu zeigen. Ich starrte ihn nur ausdruckslos an und ignorierte den warnenden Blick meiner Mutter.
„Du bist Rosette“, stellte er fest, eine Aussage, keine Frage, aber ich nickte trotzdem. Sein Blick fiel auf meine Wange, doch er sagte nichts über den blauen Fleck dort, sondern hob seine Augen einfach wieder zu meinen. „Du warst nicht auf der Hochzeit.“
„Ich hatte Wichtigeres zu tun.“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Dinge, die wichtiger sind als die Hochzeit deiner Mutter?“
„Ja, Sir.“
Es musste meine Einbildung gewesen sein oder ein Spiel des Lichts, aber seine Lippen verzogen sich leicht, als wollte er lächeln, entschied sich aber dagegen.
Er schüttelte die Hand meiner Mutter von sich, als ob sie ihn störte, und ging mit langen, sicheren Schritten auf mich zu. Er … hatte eine Aura um sich. Es war mehr als nur Dominanz; es war pure Macht. Und seine Augen … an ihnen war etwas so Beunruhigendes, und es war nicht die Art, wie er mich anstarrte, als könnte er direkt durch mich hindurchsehen.
„Ich bin sicher, du weißt, wer ich bin“, sagte er, als er einen Schritt von mir entfernt stehen blieb.
Ich schüttelte den Kopf. „Verzeihung, Sir, aber das tue ich nicht.“
Diesmal lächelte er tatsächlich. Nur ein leichtes Heben seiner Oberlippe, aber dennoch ein Lächeln.
„Du bist seltsam, Rosette“, sinnierte er mit belustigtem Unterton in der Stimme. Dann streckte er mir seine behandschuhte Hand entgegen. „Silas Varkas.“
Ich legte meine Hand in seine, und er schüttelte sie fest, als träfe er sich mit einem Geschäftsmann. „Rosette Voss.“
„Der Butler wird dir eines der besten Zimmer in der Villa geben. Fühl dich wie zu Hause. Entspann dich, und wenn du mich brauchst, bin ich nur einen Anruf entfernt. Wir sind jetzt eine Familie, Rosette.“
Ich zog langsam eine Augenbraue hoch. „Sind wir das wirklich, Mr. Varkas?“
Seine Augen blitzten auf. Diesmal war es nicht meine Einbildung oder ein Spiel des Lichts, seine Augen leuchteten golden auf, waren im nächsten Moment aber wieder verschwunden. Er drehte sich über die Schulter zu meiner Mutter um, sein Lächeln wieder an Ort und Stelle. „Du hast mir nicht gesagt, dass deine Tochter so klug ist, meine Liebe.“
Mama lachte, der Klang war schrill und falsch. „Oh, das ist sie. Sie ist sehr klug.“
Er sah wieder zu mir und zog seine Hand zurück. „Wir sehen uns später, Rosette. Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen. Ich bin sicher, meine Jungs werden dich lieben.“
Ich sah ihm nach, wie er auf meine Mutter zuging, sich zu ihr hinunterbeugte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab, bevor er den Raum verließ. Mutter drehte sich mit einem Lächeln im Gesicht zu mir um und öffnete den Mund, aber ich kam ihr zuvor.
„Wer ist er?“
Ihr Lächeln wurde breiter. „Er ist reich, Rosette. Steinreich.“
„Das war nicht meine Frage. Wer zum Teufel ist er?“
„Achte auf deine Wortwahl“, zischte sie, und das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.
„Laber mich jetzt nicht wegen meiner Wortwahl voll“, knurrte ich und fletschte die Zähne. „Weißt du überhaupt irgendetwas über ihn? Was er tut? Was für ein Mensch er ist? Oder hast du nur ihn und sein großes Auto gesehen und bist sofort sabbernd über ihn hergefallen?“
Das Klackern ihrer Absätze hallte über den Marmorboden, als sie auf mich zumarschierte und mit zitterndem Finger auf mich zeigte. „Ich bin deine Mutter, Rosette, und ich dulde nicht, dass du in diesem Ton und mit solchen Worten mit mir sprichst. Ich bin deine Mutter und du wirst–“
„Dann benimm dich auch so!“, fuhr ich sie an. Mein Brustkorb hob und senkte sich heftig, während das vertraute, heiße Gefühl der Wut seine Faust um meine Kehle legte und mir das Atmen erschwerte. „Wann warst du jemals eine Mutter für mich? Hm?! Wann, Vera?! ‚Ich bin deine Mutter. Ich bin deine Mutter‘, aber du hast mir nicht ein einziges Mal mütterliche Liebe gezeigt. Du hast mich nie in den Arm genommen oder mit mir gelacht, wie andere Mütter es mit ihren Kindern tun. Alles, was ich je von dir bekommen habe, ist Hass und Wut, und trotzdem nennst du dich noch meine Mutter!“
Die Wut war wie ein zweites Herz in meiner Brust, das mit unbändiger Kraft schlug und mich zittern ließ.
Meine Mutter starrte mich mit weit aufgerissenen Augen und leicht geöffneten Lippen an. Sie machte einen langsamen, zögerlichen Schritt auf mich zu, ihre Beine zitterten, doch es gelang ihr, aufrecht stehen zu bleiben.
„Willst du etwas wissen, Rosette?“, fragte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Ich war einmal wild und frei. Ich war einmal sehr schön, aber dann trat dein Vater, dieser … Bastard, in mein Leben und stutzte mir die Flügel. Und dann wurdest du geboren und hast mir mein Licht genommen. Nachdem ihr beide in mein Leben getreten wart, waren meine Tage nur noch von Dunkelheit und Mühsal erfüllt.“
„Hörst du dir eigentlich selbst zu?“, fragte ich mit brüchiger Stimme. „Inwiefern ist irgendetwas davon meine Schuld? Klar, du kannst Papa die Schuld geben, denn er wusste, was er tat, aber mir? Du hast mich auf diese Welt gebracht! Du hast diese Entscheidung getroffen! Und das erste Gefühl, das du mir zeigtest, war Hass. Du hast mir nicht einmal eine Chance gegeben, du hast nicht den geringsten Versuch unternommen, mich zu lieben. Du sagst, ich hätte dir dein Licht genommen, aber ich hatte von Anfang an nie ein eigenes Licht. Dein Zorn und dein Hass haben dieses Licht schon in deinem Mutterleib aufgesogen.“
Ich trat einen Schritt auf sie zu, und sie blieb einfach reglos stehen und sah mich mit leerem Gesichtsausdruck an. Ich glaube, von ihr hatte ich diese Ausdruckslosigkeit, denn in diesem Moment sahen wir uns so ähnlich, als würde ich in einen Spiegel blicken.
Vielleicht waren wir uns doch ähnlicher, als ich dachte.
„Ich will, dass du leidest, Mama. Richtig leidest. Denn du hättest mich niemals zur Welt bringen dürfen, wenn das alles ist, was ich bekommen sollte.“
Ich stürmte an ihr vorbei, mein ganzer Körper schmerzte. In den letzten zweiundzwanzig Jahren meines elenden Lebens hatte ich diese Worte nie laut ausgesprochen. Sie hatten sich mir immer wieder die Kehle zugeschnürt, aber ich hatte der Versuchung, sie auszusprechen, nie nachgegeben. Doch anscheinend hatte dieser letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht.
Ich wusste nicht, wohin ich ging, denn diese Villa war neu für mich und wie ein Labyrinth, aber ich lief einfach weiter. Ich brauchte Wasser, um dieses Feuer zu löschen, das in mir tobte.
Ich war so in meinen Gedanken und meiner Wut gefangen, dass ich nicht darauf achtete, wohin ich lief. Als ich um eine Ecke bog, ohne meine Umgebung wahrzunehmen, prallte ich gegen etwas Hartes.
„Scheiße“, fluchte ich und rieb mir die Stirn.
Etwas vor mir bewegte sich, und bevor ich aufsehen konnte, ertönte eine kühle, gedehnte Stimme: „Na, was haben wir denn hier?“
