Kapitel 5

Perspektive von Freya

Die Erinnerung an jene Nacht verblasste, als ich unsanft in die Gegenwart zurückgerissen wurde – ich stand im Sichelhof, Silberketten fesselten meine Handgelenke, mein Urteil war gesprochen, mein Schicksal besiegelt. Der Geschmack bitterer Ungerechtigkeit füllte meinen Mund, während ich in Thornes unbewegtes Gesicht starrte. Drei Wochen waren seit Kaelins Falle vergangen, und hier stand ich nun, verurteilt für ein Verbrechen, das durch Manipulation erst entstanden war.

Die Wächter der Wildnis verstärkten ihren Griff um meine Arme und bereiteten sich darauf vor, mich aus dem Gerichtssaal zu führen, um meine Reise zum Silberfessel-Gefängnis anzutreten. In wenigen Stunden würde ich auf dem Weg in die Vergessenen Wildlande sein, beraubt von allem, was ich je gekannt oder geliebt hatte.

Eine verzweifelte Klarheit durchfuhr mich. Das könnte meine letzte Chance sein – meine einzige Chance –, allein mit Thorne zu sprechen, fernab der wachsamen Augen des Rudels, fernab von Edward Brooks' Einfluss, fernab von Kaelins Manipulationen. Eine letzte Gelegenheit, ihn die Wahrheit erkennen zu lassen.

„Ich will Alpha Thorne allein sehen!“, schrie ich und wehrte mich gegen ihren Griff. „Wenn nicht, sorge ich dafür, dass ganz Moon Bay erfährt, dass er eine unschuldige Wölfin verurteilt hat! Dass er die Gerechtigkeit der Mondgöttin verletzt hat!“

Mein Ausbruch brachte mir einen harten Schlag auf den Hinterkopf von einem der Wächter ein, aber ich bemerkte, wie Thorne in der Tür hinter dem Richterpult innehielt. Seine Schultern spannten sich unter der Robe an, und sein Kopf drehte sich leicht, ein Ohr zu meiner Stimme geneigt – eine unbewusste Wolfsgeste der Aufmerksamkeit.

„Glaubst du, irgendjemand wird dir zuhören?“, höhnte einer der Wächter, während sie mich den Korridor entlangschoben. „Ein Riley-Welpe auf dem Weg in die Wildnis? In drei Jahren, falls du überhaupt überlebst, wirst du nichts als Knochen und verfilztes Fell sein. Schwache kleine Wölfinnen wie du halten da draußen ohne Rudel keinen Monat durch.“

Ich fletschte die Zähne, spürte, wie meine Eckzähne trotz der Silberfesseln länger wurden. „Ich bin stärker, als ich aussehe.“

Etwas in meinen Augen musste ihn beunruhigt haben, denn er wich einen Schritt zurück. Der andere Wächter lachte.

„Wartet“, ertönte Thornes Stimme hinter uns. In seinen Worten lag eine Anspannung, die ich im Gerichtssaal nicht gehört hatte.

Die Wächter erstarrten und neigten dann ihre Köpfe. „Ja, Alpha.“

Mein Herz machte einen Satz, ein scharfer Hoffnungsschimmer durchbrach die Verzweiflung, die mich zu ertränken drohte. Ich drehte den Kopf und versuchte, an den Wächtern vorbei dorthin zu blicken, wo Thorne am Ende des Korridors stand. Unsere Blicke trafen sich kurz über die Distanz. Sein Gesicht blieb unbewegt, aber in seinem Blick lag etwas, das ich nicht benennen konnte – vielleicht ein Aufflackern des Wolfes, den ich einst gekannt hatte, oder nur meine verzweifelte Einbildung.

Der Griff der Wächter um meine Arme lockerte sich leicht. Ich nutzte den Moment und drehte mich ganz zu Thorne um.

Meine Wölfin, die sich seit dem Urteilsspruch in mir verkrochen hatte, wurde plötzlich aufmerksam. „Er hört zu. Er gibt uns eine Chance.“ Ich versuchte, ihren Optimismus mit menschlicher Vorsicht zu zügeln. Vielleicht wollte Thorne mich nur unter vier Augen für meine Respektlosigkeit tadeln oder mich davor warnen, „Lügen“ über Kaelin zu verbreiten.

„Fünf Minuten“, flehte ich, nicht mehr schreiend, aber meine Stimme trug klar durch den Korridor. „Fünf Minuten, um allein mit dir zu sprechen. Das ist alles, worum ich bitte. Nach allem, was wir füreinander waren, verdiene ich nicht wenigstens das?“

Geflüster brach unter den Gerichtsbeobachtern aus, die in den Flur gefolgt waren. Unsere frühere Beziehung so offen zu erwähnen, war tabu, besonders jetzt, da ich verurteilt war. Aber ich hatte nichts mehr zu verlieren.

Thornes Kiefer spannte sich an, und ich sah, wie sich sein Brustkorb mit einem tiefen Atemzug hob. Für einen schrecklichen Moment dachte ich, er würde ablehnen, sich abwenden und mich meinem Schicksal überlassen. Dann nickte er einmal kurz und bestimmt.

„Bringt sie her“, wiederholte er, diesmal leiser. Dann drehte er sich um und ging, seine Robe schwang hinter ihm her.

Die Richterkammer des Alphas war ganz anders als der öffentliche Gerichtssaal. Wo der Sichelhof Macht durch prachtvolle Architektur und formelle Verfahren zur Schau stellte, sprach dieser Raum von persönlicher Autorität. Die Wände waren mit Büchern gesäumt – Gesetzestexte und Rudelchroniken. Ein massiver Schreibtisch aus dunklem Holz beherrschte den Raum, und dahinter stand der Alpha selbst, seine Richterrobe abgelegt, die einen tadellos geschnittenen, anthrazitfarbenen Anzug enthüllte.

Ohne die silberbesetzte Robe füllte seine wahre Präsenz den Raum noch intensiver aus. Meine Wölfin erkannte seine Dominanz sofort und zog sich in mir zurück, trotz meiner menschlichen Entschlossenheit, aufrecht zu stehen.

„Du warst schon immer töricht mutig, Freya“, sagte er, seine Stimme nun leiser, da wir allein waren. Seine Finger trommelten einmal auf den Schreibtisch – dasselbe verräterische Zeichen wie früher. „Oder vielleicht einfach nur töricht.“

„Warum hast du mich verurteilt?“, verlangte ich zu wissen und ignorierte alle gängigen Protokolle. „Du weißt, dass ich keinen Grund hatte, sie anzugreifen. Wir standen kurz davor, unsere Verlobung bekannt zu geben. Warum sollte ich alles aufs Spiel setzen, wofür ich fünf Jahre lang gearbeitet habe?“

Thornes Kiefer spannte sich an, ein Muskel zuckte unter seiner Haut. Er schloss kurz die Augen, und als er sie wieder öffnete, war sein Blick härter als zuvor. „Du verstehst es immer noch nicht, oder? Dein Motiv ist irrelevant. Tatsache ist, dass Kaelin Brooks angegriffen wurde. Deine Krallen haben diese Spuren auf ihrem Arm hinterlassen. Mehrere Zeugen haben gesehen, wie du über ihr standest.“

„Sie hat mich provoziert!“ Ich trat einen Schritt näher und ignorierte das warnende Knurren der Wache an der Tür. „Sie hat mir erzählt, sie sei mit deinem Kind schwanger. Sie hat schreckliche Dinge über meine Familie gesagt, über uns. Sie wollte, dass ich sie angreife – das war alles Teil ihres Plans.“

Thorne schloss kurz die Augen, sein Gesichtsausdruck war gequält. „Freya, es spielt keine Rolle, warum du es getan hast. Das Gesetz ist eindeutig. Es ist unter allen Umständen verboten, einen Werwolf während einer dokumentierten Phasenepisode anzugreifen. Selbst wenn sie dich provoziert hätte – was ich damit nicht behaupte –, würde das nichts an deiner Schuld ändern.“

Ich lachte bitter auf, der Klang hallte sogar in meinen eigenen Ohren hohl wider. „Das ist es also? Du wirfst alles weg, was wir hatten, wegen eines einzigen Moments, in dem ich die Kontrolle verloren habe? Weil sie mich absichtlich an diesen Punkt getrieben hat?“

„Was soll ich denn sonst tun?“, fragte er und schritt hinter seinem Schreibtisch auf und ab, seine Bewegungen zu präzise, zu kontrolliert. „Das Rudelgesetz ignorieren? Meine Verantwortung als Alpha und Richter missachten? Die Fakten sind eindeutig, Freya. Du hast sie angegriffen. Deine Krallen haben diese Wunden verursacht.“

„Und das ist alles, was für dich zählt? Die physischen Beweise? Nicht der Kontext, nicht die Manipulation, nicht die fünf Jahre, die wir zusammen verbracht haben?“ Bei den letzten Worten brach meine Stimme und verriet den Schmerz unter meiner Wut.

Sein Gesichtsausdruck zuckte, für einen Moment unsicher, bevor er sich wieder verschloss. Seine Hände ballten sich an seinen Seiten zu Fäusten und entspannten sich dann wieder bewusst. „Meine persönlichen Gefühle dürfen die Gerechtigkeit des Rudels nicht beeinflussen. Das verstehst du doch sicher.“

„Persönliche Gefühle?“, wiederholte ich. „War ich das für dich? Ein persönliches Gefühl, das man beiseiteschiebt, wenn es gerade passt?“

Seine Augen blitzten gereizt auf, und für einen Augenblick brach echte Emotion durch seine Maske. „Nicht alle von uns haben den Luxus, ihrem Herzen zu folgen, Freya. Einige von uns tragen Verantwortung für unsere Rudel, unsere Blutlinien.“

Die Worte trafen mich härter, als sie es sollten. Ich zuckte sichtlich zusammen, und sein Blick folgte der Bewegung. Ein Anflug von Bedauern huschte so schnell über sein Gesicht, dass ich es beinahe übersehen hätte.

„Was ist mit meiner Familie?“, fragte ich leise. „Warum durften sie mich nicht sehen? Wo sind sie?“

Thornes Miene wurde noch verschlossener. „Die Situation deiner Familie ist … kompliziert.“

Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Was soll das heißen?“

„Nächsten Monat werde ich den Prozess gegen deinen Vater wegen Rudelverrats leiten.“ Seine Stimme war völlig emotionslos, aber sein Blick wich meinem aus. Er starrte auf einen Punkt knapp hinter meiner Schulter. „Die Beweise sind ziemlich erdrückend.“

Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen, und ich spürte, wie meine Wölfin in beschützerischer Wut aufstieg. „Verrat? Mein Vater? Warum? Warum tust du das einer Familie an, die einst mit deiner verbündet war? Wir waren Freunde – unsere Familien waren Freunde!“

Thornes Gesichtsausdruck blieb unbewegt, aber seine Atmung hatte sich leicht beschleunigt. „Die Rileys haben diese Freundschaft schon vor langer Zeit verraten. Dein Vater hat nur eine Familientradition fortgesetzt.“

Ich machte einen Satz nach vorn, nur die Ketten an meinen Handgelenken hielten mich zurück. Meine Augen veränderten sich, das menschliche Blau wich dem Bernstein des Wolfes. „Du lügst! Mein Vater ist Moon Bay treu, dem Rudelsystem. Er hat deine Familie immer unterstützt!“

Thorne zuckte bei meinem Ausbruch nicht zusammen, sondern beobachtete mich nur mit klinischer Distanz. Etwas in seiner Haltung wirkte beinahe widerstrebend, als er sagte: „Bringt sie ins Silberfessel-Gefängnis.“ Seine Stimme wurde leiser, fast unmerklich sanfter. „Stellt sicher, dass sie vor dem Transport ordnungsgemäß mit einem Mondsilber-Unterdrücker ausgestattet wird.“

Als die Wache meinen Arm packte, traf mein Blick ein letztes Mal den von Thorne. „Was auch immer du glaubst, dass meine Familie getan hat, du liegst falsch. Und eines Tages wirst du erkennen, wie sehr du dich auch in mir geirrt hast.“

Etwas zuckte in seinen goldenen Augen – Zweifel? Bedauern? Seine Finger zuckten an seiner Seite, als wollte er die Hand ausstrecken. Sein Kehlkopf bewegte sich, als er schluckte. Ich sah Schmerz darin und Verwirrung, bevor die Alpha-Fassade wieder einrastete.

„Leb wohl, Freya Riley“, sagte er leise. „Möge die Mondgöttin dir in der Wildnis gnädig sein.“

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