Kapitel 2 - Beschworen
Das scharfe Ziehen in meinem Kopf ließ mich zusammenzucken. Alpha Lucas' Befehl hallte wie ein Peitschenhieb durch die Verbindung.
Alle weiblichen Mitglieder ins Rudelhaus. Sofort.
Die Worte hinterließen einen stechenden Schmerz, eine Last, die auf meine Brust drückte, bis ich scharf durch die Nase ausatmete. Natürlich. Ich stellte die Kiste mit getrockneten Bohnen ab, die ich gerade gestapelt hatte, und klopfte mir den Staub von den Händen. Meine Fingernägel waren eingerissen, meine Handflächen rau von der endlosen Arbeit, die ursprünglich nicht einmal meine war.
Lyras Aufgaben waren wieder einmal meine – die Inventur der Vorräte, das Auffüllen der Speisekammer, der endlose Kreislauf von Arbeit, den sie niemals anrührte. Meine Eltern bestanden immer darauf, dass ich für sie einsprang. Sie war zu zart, zu kostbar, um sich die Hände schmutzig zu machen. Lyra war das strahlende Juwel unserer Familie, während ich der matte Stein war, den niemand für sich beanspruchen wollte.
Ich schluckte die Frustration hinunter, die mir in der Kehle brannte. Es hatte keinen Sinn, dagegen anzukämpfen. Niemand hörte mir je zu, wenn ich es versuchte. Jedes Mal, wenn ich widersprach, endete es auf die gleiche Weise – mit mehr Aufgaben, mehr Strafen, mehr Schweigen, wo eigentlich Wärme hätte sein sollen.
Das Rudelhaus ragte vor mir auf, als ich den breiten Korridor betrat, dessen Wände aus massivem Stein und Holzbalken gehauen waren, die das Gewicht von Jahrhunderten trugen. Es war das Herz des Rudelgebäudes, erfüllt von Macht und Tradition. Mein Magen verkrampfte sich, als ich eintrat.
Ein Schauer lief mir über den Rücken.
Jede Frau war bereits da, aufgereiht in sauberen Reihen auf dem weiten Boden. Die Luft war schwer von ihren Düften – Lavendelseife, die an der Haut haftete, scharfes Parfüm, das in der Nase biss, und darunter der schwache Geruch von Schweiß und Wolfsmoschus. Es war zu süß, zu aufdringlich, und ich unterdrückte den Drang, die Nase zu rümpfen.
Schnell schlüpfte ich zur Seite und drückte mich an den Rand der Reihen, weg von Lyra und ihrem Kreis eifriger Schmeichlerinnen. Weg von denen, die mich verächtlich ansahen, wenn niemand hinschaute. Sie verlagerten ihr Gewicht von einer Hüfte auf die andere, legten ihre Köpfe mit geübten Bewegungen schief, die Lippen glänzend und zu einem schüchternen Lächeln geöffnet. Sie hatten die Kunst gemeistert, ihre Körper einzusetzen, um zu bekommen, was sie wollten.
Ich wollte nicht so sein.
Ich wollte stark sein. Ich wollte mehr sein. Ich wollte ich selbst sein, ohne um Brotkrumen der Zuneigung betteln zu müssen.
Vorne stand Alpha Lucas, groß und aufrecht. Seine Haltung war makellos, jede Faser seines Körpers strahlte Kontrolle aus. In seiner Hand hielt er ein Blatt Papier, das an den Rändern von seinem festen Griff leicht zerknittert war. Zu beiden Seiten standen mein Vater – Beta Maverick – und Darin. Beide Männer flankierten ihn wie Schatten, ihre Gesichtszüge zu Masken der Macht erstarrt.
Die Schultern meines Vaters waren steif, sein Kiefer fest angespannt, als wollte er Worte darin gefangen halten. Darins Blick jedoch wanderte durch den Raum, langsam und abschätzend. Als er genau auf mir landete, zuckte sein Mundwinkel in einer Mischung aus Belustigung und Hunger.
Sofort senkte ich den Blick, während mir die Hitze ins Gesicht schoss.
Die Stille war erstickend. Das Schlurfen einiger Nachzügler, die sich in die Reihen drängten, war das einzige Geräusch. Dann erfüllte die Stimme von Alpha Lucas die Höhle – tief, klangvoll und unnachgiebig.
„Die jährliche Alpha-Versammlung wird nächste Woche stattfinden“, verkündete er mit einem Tonfall wie Eisen, das auf Stein schlägt. „Dieses Jahr wird es anders sein. Die Ältesten haben verfügt, dass jedes Rudel alle volljährigen Frauen vor den Rat bringen muss. Ohne Ausnahmen.“
Ein Raunen ging durch den Raum, leise, aber scharf wie Klingen. Mein Magen fiel in eine kalte Grube.
Lucas’ Blick wanderte über die Menge, seine Präsenz lastete auf uns wie ein aufziehendes Gewitter. „Wir sind Wölfe. Wir sind eine Familie. Wir gedeihen nicht als Einzelne, sondern als Einheit. Unsere Pflicht gilt einander, dem Rudel und dem Blut, das uns verbindet. Ohne Loyalität gibt es Schwäche. Ohne Einheit gibt es Versagen. Und ohne Ehre gibt es nichts.“
Ehre. Pflicht. Familie.
Die Worte klapperten in meinem Kopf wie hohle Knochen. Ich unterdrückte den Drang, mit den Augen zu rollen. Was wusste Lucas schon von Ehre, wenn er jedes Mal wegsah, wenn meine Eltern ihre Scham auf mich abwälzten? Was wusste er von Familie, wenn er zuließ, dass ihre Grausamkeit mich aushöhlte?
Aber ich hielt mein Gesicht ausdruckslos, den Kopf gesenkt. Ich hatte keine Wahl. Ich war noch keine achtzehn. Bis dahin musste ich mich fügen.
Lucas faltete das Papier in seinen Händen auseinander, sein Kiefer spannte sich an. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte Zorn über sein Gesicht, bevor er ihn wieder glättete. Ein Knurren grollte aus seiner Brust, tief und gefährlich, und brachte das Flüstern zum Schweigen.
„Älteste Thora hat eine Liste herausgegeben“, sagte er, seine Stimme scharf und bedächtig. „Namentlich.“
Der Raum hielt den Atem an.
Er begann zu lesen, jede Silbe wie ein Hammerschlag auf Stein.
„Abigale. Carry. Ella. Gia. Jackie. Mara. Tessa. Willow.“
Die Namen hallten von den Steinwänden wider, jeder einzelne landete mit einer Schwere, die die Luft dichter machte.
„Kira.“
Er stockte. Seine Lippen kräuselten sich um meinen Namen, als wäre er bitter auf seiner Zunge, als würde er Gift ausspucken.
Meine Wangen brannten heiß, als Dutzende Augenpaare zu mir schnellten. Geflüster regte sich. Ich starrte auf den Boden und zwang mich, unter ihren prüfenden Blicken nicht zusammenzuzucken. Meine Kehle schnürte sich zu, aber ich rührte mich nicht.
„Lyra. Aleria. Rina. Solene. Veyra.“
Meine Schwester. Meine Mutter. Selbst sie waren nicht entkommen.
Jeder Name war ein Nagel, der in die Stille getrieben wurde. Meine Brust wurde mit jedem Schlag enger, meine Lungen schmerzten, als könnte ich nicht genug Luft bekommen.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Lyra sich bewegte. Ihre Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Grinsen, als wäre meine Demütigung der süßeste Wein, den sie je gekostet hatte. Der Kiefer meiner Mutter spannte sich an, ihre Wut ein Sturm, den sie kaum zügeln konnte. Und Darin – Darins Augen glitten zurück zu mir, dieselbe spöttische Belustigung zuckte um seinen Mund. Er sah aus, als würde er jede Sekunde davon genießen.
Die Versammlung stand bevor.
Und zum ersten Mal in meinem Leben würde ich nicht unsichtbar sein.
Ob ich wollte oder nicht.
