Kapitel 1
Mit jedem Schritt, den ich den endlosen Korridor zur Großen Halle hinunterschritt, zog sich meine Brust zusammen. Das erste Licht der Morgendämmerung schlich durch die hohen Fenster und tauchte alles in ätherische Silber- und Violetttöne, die mich an ihre Augen erinnerten.
Aber etwas stimmte nicht. Das Schloss fühlte sich an diesem Morgen anders an – die Schatten waren tiefer, die Stille drückender. Selbst die Diener, an denen ich vorbeikam, bewegten sich mit ungewöhnlicher Eile, ihre Gesichter blass und angespannt.
Kristallblaue Augen, leuchtend wie Wintersternenlicht, spukten in jedem Winkel meines Geistes. Die Werwolfprinzessin, der ich unter der Umarmung des Mondes begegnet war, hatte nicht nur meine wachen Gedanken für sich beansprucht – sie war mit seidenem Flüstern und geisterhaften Berührungen in meine Träume eingedrungen. Ihre üppigen Kurven hatten mir mit verzweifeltem Hunger das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Ihr berauschender Duft nach wilden Rosen und Mitternachtsregen hatte mein Blut in flüssiges Feuer verwandelt.
Ich war nicht naiv. In dem Moment, als sich unsere Blicke auf dem Friedensgipfel trafen, loderte die Erkenntnis durch meine Seele. Ich wusste, was sie war, wozu das Schicksal sie bestimmt hatte – meine Gefährtin.
Als ich sie in den mondbeschienenen Gärten gehalten hatte, hatte sich noch nie etwas so vollkommen richtig angefühlt. Nichts war jemals so verheerend falsch gewesen …
Verdammt seien die Götter …
Sie war für mich verboten. Ihr Volk hatte mir das Herz aus der Brust gerissen, als es meinen liebsten Gefährten abgeschlachtet hatte. Kieran war mein Bruder gewesen, in allem außer im Blut. Wir waren zusammen in unzählige Schlachten geritten, hatten uns öfter, als ich zählen konnte, gegenseitig aus den Klauen des Todes gerettet. Dann kam jene letzte, fatale Nacht, in der sein Lebensblut die Erde purpurrot färbte, als er in meinen Armen starb. Er hatte sich zwischen mich und die schnappenden Kiefer eines Werwolfs geworfen und den Todesstoß auf sich genommen, der für mich bestimmt war.
Mein Herz verkrampfte sich, als seine letzten Worte in meiner Erinnerung widerhallten.
„Schwöre es mir“, hatte er gekeucht, während ihm purpurner Schaum von den Lippen trat. „Versprich mir, dass du meine Schwester beschützen wirst. Sie hat niemanden sonst auf dieser grausamen Welt.“
Ich hatte seine zitternde Hand umklammert und geschworen: „Ich werde mehr tun, als sie zu beschützen. Ich werde sie zu meiner Frau machen.“
Erleichterung hatte sich über seine blutverschmierten Züge gelegt, bevor seine Augen glasig und leer wurden und sein letzter Atemzug wie Morgennebel entwich. Dann war er fort und hinterließ nur Stille.
Sowohl Kieran als auch ich wussten, wie sehr seine geliebte Schwester Rosalina über die Jahre hinweg heimliche Gefühle für mich gehegt hatte. Obwohl ich ihre romantischen Zuneigungen nie erwidert hatte – ich sah sie nur als liebe Schwester –, wusste ich, dass eine Heirat mit ihr meinem gefallenen Freund Frieden bringen würde. Die Dankbarkeit in seinen sterbenden Augen hatte es bestätigt.
Doch jetzt … jetzt, da ich meine wahre Gefährtin gefunden hatte …
„Höllenfeuer“, fluchte ich und fuhr mir mit den Fingern durch mein mitternachtsschwarzes Haar.
Das Geräusch eiliger Schritte hallte von irgendwo hinter mir wider, gefolgt von gedämpften, dringlichen Stimmen. Ich schnappte Fetzen geflüsterter Worte auf: „… die Prinzessin …“ „… bereits in Position …“ „… Befehl Seiner Majestät …“
Mein Blut gefror in meinen Adern.
„Lysander“, rief eine befehlende Stimme aus den Schatten vor mir.
Mein Kopf schnellte hoch und ich sah meinen Vater auf mich zukommen. König Malachar ragte vor mir auf, seine Stirn so dunkel wie Gewitterwolken, die Nüstern gebläht. Seine violetten Augen loderten mit einem überirdischen Feuer – aber da war noch etwas anderes. Etwas, das mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Erwartung. Aufregung.
Frische Tintenflecken zeichneten seine Finger, und ich nahm den Geruch von geschmolzenem Wachs wahr. Er hatte Briefe geschrieben. Viele davon.
Die Lippen zu einem Knurren verzogen, grollte er: „Folge mir.“ Er wirbelte herum, sein obsidianschwarzer Umhang bauschte sich wie Rabenflügel.
Mein Herz rutschte mir in den Magen.
Was bei den neun Höllen?
Die Art, wie er sich bewegte – raubtierhaft, zielgerichtet –, verriet mir, dass dies keine beiläufige Vorladung war. Das hier war etwas, das er geplant hatte.
Mit steifem Rückgrat folgte ich meinem Vater einen Seitengang hinunter. Er hielt an den Türen zu seinen Gemächern inne und bedeutete mir, zuerst einzutreten. Mit einer fragend hochgezogenen Augenbraue schritt ich an ihm vorbei, während er mir folgte und die Tür mit einem dröhnenden Schlag verschloss, der wie ein Todesurteil nachhallte.
Ich überflog den opulenten Raum, meine Kriegerinstinkte kribbelten vor Unbehagen. Silbriges Licht fiel durch die Erkerfenster, die samtene Fensterbank war leer. Das massive Himmelbett war perfekt gemacht, die tiefsaphirblauen Decken präzise unter den Rahmen gesteckt. Ein uraltes Schattenwolfsfell lag auf dem polierten Boden ausgebreitet.
Aber es war der Schreibtisch, der meine Aufmerksamkeit erregte. Über seine Oberfläche verstreut lagen Dutzende von Briefen, offizielle Dokumente mit königlichen Siegeln und etwas, das aussah wie … Eheverträge?
Mein Puls schoss in die Höhe.
Von meiner Mutter war keine Spur zu sehen, aber ihre Abwesenheit wirkte beabsichtigt. Inszeniert.
„Worum geht es hier?“, verlangte ich zu wissen, meine Nerven zum Zerreißen gespannt, während meine Hand instinktiv zum Griff meines Schwertes wanderte.
Mein Vater umkreiste mich wie ein Raubtier, die Hände hinter seinem breiten Rücken verschränkt. Ich verfolgte jede seiner Bewegungen, angespannt wie eine Jagdkatze. Schließlich blieb König Malachar vor mir stehen, seine Augen zu violetten Schlitzen verengt, die in meine Seele zu blicken schienen.
„Warum stinkst du nach Werwolf?“ Die Worte waren aus Stahl geschmiedet. Er rümpfte die Nase und atmete tief ein. Doch anstelle von Wut zuckte etwas anderes über seine Züge – etwas, das beinahe wie Genugtuung aussah. „Die Essenz einer Werwölfin hängt an dir wie eine Sünde.“
Entsetzen krallte sich in meiner Brust fest, dicht gefolgt von Unglauben. Schnell überprüfte ich in Gedanken unsere Verbindung. Sie war noch unvollständig und schwebte als schimmernde Linie zwischen uns. Die ätherischen Fäden leuchteten brillant – meiner eine tiefviolette Flamme, ihrer ein strahlendes Silberfeuer mit einem Hauch von Gold. Erleichterung durchströmte mich. Wir waren noch nicht endgültig verbunden.
Doch als ich die Verbindung genauer betrachtete, wurde etwas anderes klar. Das Band verstärkte sich von selbst. Es wuchs. Pulsierte mit eigenem Leben.
Kann er das Paarungsband spüren? Wie?
Mein Vater musste die Fragen in meinem Gesicht gelesen haben. „Als dein König besitze ich die Macht, die Bande wahrzunehmen, die die Seelen meines Volkes miteinander verknüpfen. Das schließt auch deines ein.“ Er trat näher, bis uns nur noch ein Atemzug trennte und zwang mich, in Augen zu blicken, die meinen glichen. „Als dein Vater … habe ich gespürt, dass sich etwas verändert hatte, in dem Moment, als ich dich erblickte. Ein einziger Geruch hat mir alles verraten.“
Sein Lächeln war messerscharf. „Aber das ist nicht alles, was ich spüren kann, mein Sohn.“
Eis durchströmte meine Adern. „Was meinst du damit?“
„Es gibt nichts zu erzählen“, knurrte ich stattdessen und ballte die Fäuste.
„Spiel keine Spielchen mit mir“, sagte König Malachar, doch seiner Stimme fehlte die erwartete Wut. Stattdessen schwang ein unterschwelliger Hauch von Aufregung mit. „Ich weiß, dass du mit einer Werwölfin intim warst.“
Meine Augen weiteten sich. „Das war ich zum Teufel noch mal nicht“, schnauzte ich. Sein Vorwurf ließ mein Blut kochen. Hielt er so wenig von mir, dass ich unser Volk verraten würde – mein heiliges Versprechen an Kieran brechen würde? Bei allen Göttern, ich war seiner Schwester versprochen!
König Malachar schnaubte. „Bitte.“ Er brachte sein Gesicht nah an meins, und ich erkannte etwas in seinem Ausdruck, das mir den Magen umdrehte. Triumph. „Ich kann sie auf deiner Haut riechen!“
Meine Gedanken schossen zu der Umarmung mit der Prinzessin in den Gärten. Ihre brillanten saphirblauen Augen waren zugeflattert, als sie sich meiner Berührung hingegeben hatte, die Lippen für den Kuss geöffnet, der nie kam. Selbst jetzt lief mir das Wasser im Mund zusammen bei dem Gedanken an den Geschmack dieser perfekten Lippen – daran, das Gefühl ihrer weichen Kurven an meinem harten Körper auszukosten.
Tief in meinem Bauch regte sich ein Verlangen, das mich zu verzehren drohte.
Ich biss die Zähne zusammen und zwang die Lust nieder, die mich gnadenlos übermannte. „Du riechst sie, weil wir uns umarmt haben“, gab ich mit zusammengebissenen Zähnen zu. „Aber ich habe nicht mit ihr geschlafen!“ Mein Blick flehte ihn an. „Ich würde mein Volk niemals so verraten. Das ist undenkbar.“
Mein Vater musterte meine Augen, als suchte er in ihren Tiefen nach der Wahrheit. Ich spürte seinen durchdringenden Blick bis in meine Seele. Unbeirrt hielt ich seinem Blick stand. Schließlich trat der König zurück und gab mir Raum. Meine Lungen füllten sich, als hätten sie nach Luft gehungert.
Mein Vater holte tief Luft und sagte: „Ich glaube dir, mein Sohn.“ Seine Lippen pressten sich zu einer dünnen Linie zusammen. „Ich weiß, wie tief dein Hass auf die Werwölfe sitzt.“ Er runzelte die Stirn, doch etwas blitzte in seinen Augen auf – etwas, das beinahe wie Genugtuung aussah. „Aber das erklärt immer noch nicht, warum der Duft einer Werwölfin an deiner Haut haftet wie das Parfüm einer Geliebten.“
Mein Kiefer mahlte, während ich meine nächsten Worte abwog. Konnte ich das meinem Vater wirklich gestehen? Dass ich meine vorherbestimmte Gefährtin unter unseren Erzfeinden gefunden hatte? König Malachar war gerecht und fair, aber er war auch ein dominanter Alpha mit einem jähzornigen Temperament.
Und die Art, wie er mich jetzt beobachtete – wie eine Spinne, die eine Fliege in ihr Netz laufen sieht –, ließ jeden meiner Instinkte schreien, ich solle schweigen.
Aber ich konnte nicht. Die Wahrheit war eine glühende Kohle in meiner Kehle.
Ich atmete tief durch und richtete mich zu meiner vollen Größe auf. „Ich habe meine Gefährtin bei diesem Gipfeltreffen getroffen. Sie ist …“ Ich hielt inne und sah zu, wie kalte Erkenntnis das Gesicht meines Vaters überzog und seine Augen sich vor Schock weiteten. Galle stieg mir in der Kehle hoch. „Sie ist die Werwolfprinzessin, Seraphina Nachtklaue.“
Eine angespannte Stille legte sich wie eine Klinge zwischen uns. König Malachar schüttelte langsam den Kopf. „Das kann nicht sein“, flüsterte er. „Bist du … bist du dir sicher?“
Ich ließ den Kopf sinken und fuhr mir nervös durch die Haare. „Bei den Göttern, ich wünschte, ich wäre es nicht, Vater. Aber diese Frau ist meine Gefährtin.“
Mein Vater wandte sich ab, sein Rücken war stocksteif. Er stemmte die Hände in die Hüften und senkte den Kopf. Zum ersten Mal in meinem Leben war der große König Malachar sprachlos. Ein stechender Schmerz durchfuhr mein Herz, als ich sah, wie er meinetwegen und wegen meiner Verbindung zu unserer Feindin so gebrochen dastand. Meine Fäuste zitterten vor dem Drang, etwas zu zerstören. Die dunklen Kräfte in meinem Inneren schwollen an und verlangten nach Entfesselung.
Dann hörte ich es. Leise, fast unhörbar.
Mein Vater kicherte.
Dieses Geräusch jagte eiskalten Schrecken durch meine Adern. König Malachars Lachen war schon immer der Vorbote für jemandes Untergang gewesen.
Mein Vater drehte sich seitlich, rieb sich das Kinn und warf mir einen berechnenden Blick zu, der mein Blut zu Eiswasser gefrieren ließ.
Die feinen Härchen in meinem Nacken stellten sich warnend auf.
Was denkt er nur?
„Perfekt“, murmelte König Malachar, seine Stimme triefte vor dunkler Befriedigung. „Absolut perfekt.“
Nein. Nein, nein, nein.
Ich zog eine Augenbraue hoch und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Was? Was hast du vor?“
Mein Vater trat an den Schreibtisch, seine Finger strichen über die Eheverträge. „Weißt du, was das bedeutet, Lysander?“ Sein Lächeln war raubtierhaft. „Deine Gefährtenbindung zur Werwolfprinzessin … sie ist kein Fluch. Sie ist eine Gelegenheit.“
Meine Welt geriet ins Wanken. „Vater, wovon redest du?“
„Du wirst sie heiraten“, sagte er schlicht, als würde er über das Wetter sprechen. „Heute Nacht.“
