Kapitel 5

SERAPHINA

Die Furcht wand sich wie eine Schlange in meinen Knochen, als unsere Kutsche in den Hof des Palastes des Nachtschattenhofes rollte. Anstelle des warmen, goldenen Steins meiner Heimat erhob sich diese Festung aus Obsidian und Schatten, ihre Mauern schienen das Licht selbst zu verschlingen. Die spiralförmigen Türme krallten sich wie Klauen in den Himmel, ihre spitzen, ebenholzfarbenen Dächer und tiefvioletten Banner wirkten unheilvoll, als sie im kalten Wind tanzten.

Diener in dunklen Roben näherten sich wie Gestalt gewordene Schemen, und mit jedem Schritt, den sie auf uns zukamen, zog sich der Knoten der Angst in meiner Kehle enger. Meine Lungen fühlten sich zusammengepresst an, als wäre die Luft selbst zu Stein geworden.

Die Diener öffneten unsere Tür. Lysander stieg als Erster aus, ohne mir einen Blick zuzuwerfen, und ging dann weiter, als ob ich nicht existierte. Ich hätte mich vielleicht darüber geärgert, wenn die Angst nicht mein Blut hätte gefrieren lassen.

„Lysander“, befahl eine scharfe Stimme aus der benachbarten Kutsche. Ich spähte durch das Fenster.

König Malachar stand bereits draußen und half mit seiner imposanten Gestalt einer eleganten Dame beim Aussteigen. Die Frau, die ich als Lysanders Mutter erkannte, bedachte ihren Sohn mit einem vernichtenden Blick. Sie deutete mit klarer Erwartung in meine Richtung. Ich blinzelte verständnisvoll. Lysander erstarrte, jeder Muskel in seinem kraftvollen Rücken spannte sich an. Er warf seinem Vater einen flehenden Blick zu. König Malachars Miene blieb unerbittlich.

Lysander ballte die Fäuste und kehrte an meine Seite zurück.

Was hat er vor …?

Er streckte seine Hand aus, und die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz. Er sollte mir aus der Kutsche helfen, so wie sein Vater seiner Mutter geholfen hatte. Eine ritterliche Geste, wäre da nicht das finstere Stirnrunzeln gewesen, das seine schönen Züge entstellte. Meine innere Wölfin senkte mit einem verletzten Wimmern den Kopf. Sie spürte den Stachel seiner Zurückweisung.

Allein dieses Wissen entfachte meinen Stolz. Ich stieg aus der Kutsche und schlug seine Hand absichtlich weg. Ich würde allein bestens zurechtkommen, danke sehr.

Lysanders Augen weiteten sich bei meiner kühnen Weigerung. Er senkte langsam seine Hand, sein Blick verdüsterte sich wie aufziehende Gewitterwolken.

Jemand räusperte sich vielsagend. Ich drehte mich um und sah Lysanders Geschwister mit ihren Eltern im Hof versammelt. Seine Schwester schien mir einen mitfühlenden Blick zuzuwerfen, während die Schultern des jüngeren Bruders von kaum unterdrücktem Lachen bebten. Ich bedachte ihn mit einem goldenen, funkelnden Blick. Das schien seine Heiterkeit nur noch zu beflügeln. Ich glaubte, sein Name war Kieran … König Malachar warf einen strafenden Blick über seine Schulter, und Kieran wurde sofort wieder ernst.

Der König wandte sich wieder mir und Lysander zu und sagte: „Willkommen in unserem Reich, Prinzessin Seraphina Nachtklaue.“

Ich sank in einen tiefen Knicks, wie es das königliche Protokoll verlangte. „Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Eure Majestät.“ Als ich mich aufrichtete, sah ich Anerkennung in seinen dunklen Augen aufblitzen, während sich die scharfen Züge der Königin geringfügig milderten.

„Lysander“, wies Königin Ravenna Schattenmoor ihren Sohn an, „eskortiere die Prinzessin durch unsere Hallen. Wenn sie diesen Ort ihr Zuhause nennen soll, muss sie seine Geheimnisse kennen.“

Mein Lächeln blieb starr, obwohl meine Wölfin innerlich vor Protest heulte.

Ich kann keinen weiteren Augenblick mit ihm eingesperrt ertragen. Ich habe bereits einen ganzen Tag in dieser Kutsche überlebt!

An den feinen Muskelzuckungen an seiner Schläfe konnte ich erkennen, dass Lysander meine Abneigung teilte. Doch der gebieterische Ausdruck seiner Mutter duldete keinen Widerspruch.

Lysander warf mir einen flüchtigen Blick zu und sagte: „Folgt mir, Prinzessin.“ Dann drehte er sich um und schritt auf die hoch aufragenden Palasttore zu.

Ich machte einige Schritte vorwärts, bevor Zweifel wie Gift meine Entschlossenheit durchdrangen. Ich warf einen unsicheren Blick über meine Schulter. Königin Ravenna nickte mir ermutigend zu.

„Prinz Lysander wird Eure Sicherheit gewährleisten, Prinzessin Seraphina“, versicherte mir König Malachar.

Wenn Ihr nur die Wahrheit wüsstet …

Meine Brust hob und senkte sich, als ich einen stärkenden Atemzug nahm und dem Prinzen wieder folgte. Ich betrat den Palast und schnappte bei seiner dunklen Pracht nach Luft. Kristalllüster warfen prismatische Regenbögen entlang des großen Korridors. Ein tiefroter Teppich floss über die polierten Marmorböden. Wachen in mitternachtsblauer Rüstung standen stramm und salutierten knapp, als wir an ihnen vorbeigingen.

Lysander würdigte sie mit einem leichten Nicken. Er blickte mich aus dem Augenwinkel an. „Hinter diesem Korridor liegt der Thronsaal.“ Er führte mich durch hoch aufragende Türen in eine Kammer, die mir den Atem raubte.

Ein prächtiger Kronleuchter tauchte den Raum in silbrigen Glanz. Am anderen Ende dominierten zwei Throne, von denen einer etwas größer war als sein Gegenstück – der Sitz des Königs. Beide schienen aus reinem Platin gefertigt, mit Diamantakzenten und üppigen, violetten Polstern verziert. Der Thronsaal war leer.

Ich sah Lysander an. „Wo ist Euer Hofstaat?“

Er warf mir einen Blick zu, der von leichter Ungläubigkeit zeugte. „Sie sind noch von den Ländereien des Blutmondes unterwegs. Einige haben beschlossen, heute Nacht in Gasthäusern entlang des Weges zu rasten. Aber als Angehörige des Königshauses müssen wir unverzüglich zum Palast zurückkehren.“

Die Hitze der Verlegenheit schoss mir in die Wangen.

Natürlich. Wie dumm ich klingen musste.

Er wirbelte auf dem Absatz herum und glitt einen anderen Korridor entlang. Mit effizienter Kürze zeigte er mir die riesige Bibliothek und den großen Ballsaal. Dann führte er mich eine prunkvolle Treppe hinauf und wies auf mehrere Privatgemächer im Westflügel des Palastes hin, in denen wichtige Gäste und Botschafter residierten.

„Erlaubt mir, Euch die Nachtgärten zu zeigen“, sagte Lysander und steuerte auf die Treppe zu.

Ich musste beinahe rennen, um mit seinen langen Schritten mithalten zu können; meine kürzeren Beine hatten Mühe, Schritt zu halten.

Er stieg die Treppe hinab, während ich meine Röcke raffte und ihm nachhastete. „Bitte wartet …“ Ein spitzer Aufschrei entfuhr meiner Kehle, als sich mein Fuß im Stoff verfing.

Ich kippte nach vorn, den unnachgiebigen Steinstufen entgegen. Keuchend kniff ich die Augen zusammen, unfähig, mich rechtzeitig aufzurichten, um das Unheil abzuwenden.

Starke Arme umschlangen meine Taille und stoppten meinen Fall. Die Luft wurde mir aus den Lungen gepresst. Im nächsten Herzschlag wurde ich an eine feste Brust zurückgezogen. Meine Augen flogen auf und ich sah Lysander hinter mir stehen. Seine überirdische Wärme sickerte durch mein Kleid und entfachte das Feuer in meinem Bauch zu lodernder Intensität. Mein Atem ging in kurzen Stößen, obwohl ich mich nicht angestrengt hatte. Ich legte den Kopf zurück, um seinem Blick zu begegnen.

Sein Kopf neigte sich herab, unsere Augen trafen aufeinander wie Sterne, die auf die Leere treffen. Dunkle Strähnen seines Haares fielen um uns herum wie ein Vorhang aus Mitternacht und schufen einen intimen Kokon, der die Welt ausschloss. Lysanders Nüstern blähten sich, als er meinen berauschenden Duft wahrnahm. Sein Griff verstärkte sich, lange Finger drückten sich in die weichen Rundungen meiner Hüften. Meine innere Wölfin schnurrte beinahe vor Vergnügen, ihr Schwanz wedelte, während sie sich unter meiner Haut streckte. Rein instinktiv drückte ich mich gegen ihn, mein Hintern rieb sich an seiner sich verhärtenden Länge.

Lysander stieß ein heiseres Zischen des Verlangens aus. Ich spürte, wie er gegen mich steif wurde.

Meine Augen weiteten sich vor Schock und Faszination.

Bei der Göttin … er kann unmöglich so prächtig bestückt sein …

Lysander senkte seinen Kopf, bis sein warmer Atem meine Wangenknochen wie das Flüstern eines Liebhabers streichelte. Seine Lippen schwebten nur einen Hauch von meinen entfernt. Mir lief das Wasser im Mund zusammen vor verzweifeltem Verlangen – diese festen Lippen zu schmecken, seine Essenz in mich aufzunehmen, mich in seiner Dunkelheit zu verlieren.

Meine Hüften rollten erneut gegen ihn. Ein kehliges Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Ich biss fest zu, um das Wimmern zu unterdrücken, das in meiner aufstieg. Sterne über mir, es fühlte sich göttlich an.

Seine Zunge schnellte hervor, um die zarte Mulde meines Halses zu kosten, und die feuchte Hitze auf meiner empfindlichen Haut brachte meine Selbstbeherrschung beinahe vollständig zum Einsturz. Ich wollte über diesen Abgrund stürzen und in seine wartenden Arme fallen.

Dann erstarrte Lysander. Jeder Muskel in seinem kraftvollen Körper spannte sich an wie Eisenbänder. In diesem Augenblick wusste ich, dass er in die harte Realität zurückgekehrt war – aus unserem Moment der Leidenschaft gerissen durch das Wissen darum, was wir darstellten. Uralte Feinde. Es spielte keine Rolle, dass unsere Eltern diese Verbindung arrangiert hatten. Jahrhunderte des Hasses konnten nicht an einem einzigen Tag ausgelöscht werden. Meine innere Wölfin setzte sich auf die Hinterläufe, die Ohren niedergeschlagen angelegt.

Mit einem Lippenverziehen, das Bedauern ähnelte, richtete ich mich auf und glitt aus seiner Umarmung. Er ließ seine Arme an die Seiten fallen. Ich fand auf der Stufe mein Gleichgewicht wieder und weigerte mich, seinen Blick zu erwidern, während Hitze meine Wangen und Ohren verbrannte.

„Ich …“, ich räusperte mich leise. „Danke, dass Ihr mich aufgefangen habt.“ Ich ergriff eine meiner silbergesträhnten Haarsträhnen und wickelte sie nervös um meinen Finger.

Die Stille dehnte sich zwischen uns aus wie ein Abgrund. Schmerz durchbohrte meine Brust. Er weigerte sich immer noch, mit mir zu sprechen, selbst nachdem wir einen so intimen Moment geteilt hatten. Ich schluckte die Tränen hinunter, die zu fließen drohten.

Warum verletzt mich seine Zurückweisung so tief? Es ist nicht so, als hegte ich Gefühle für diesen Schattenprinzen.

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