Kapitel 6
„Pass einfach … auf dich auf.“
Die tiefe, samtige Stimme ließ mich erstarren. Ich drehte mich um, und der Atem stockte mir in der Kehle. Prinz Lysander „Lys“ Shadowmere stand hinter mir, das Mondlicht zeichnete die scharfen Konturen seines Gesichts nach. Seine amethystfarbenen Augen, die so oft von Arroganz oder Verachtung geprägt waren, schimmerten nun mit etwas anderem – einer viel weicheren Emotion … vielleicht Bedauern?
Mein Herz verriet mich und donnerte in meiner Brust bei dem flüchtigen Anflug von Verletzlichkeit, den ich in seinem Blick erhaschte.
Ich nickte langsam, unfähig, ein Wort über den Kloß in meinem Hals zu bringen. Mit einer anmutigen Drehung ging Lysander an mir vorbei. Doch als wir die Stufen hinabstiegen, bemerkte ich etwas Seltsames – er verlangsamte seinen Schritt und passte ihn unauffällig meinem an. Und obwohl er kein Wort sagte, blieb sein Körper immer einen halben Schritt vor mir, als wollte er mich abschirmen, falls ich erneut stolpern sollte.
Sobald wir das Ende der Steintreppe erreichten, führte er mich durch zwei hoch aufragende Glastüren. Was dahinter lag, raubte mir den Atem.
Ein Garten erstreckte sich vor uns, getaucht in das goldene Rot der Abenddämmerung. Trauerweiden flüsterten dem Wind Geheimnisse zu, ihre seidenen Blätter tanzten über einem kristallklaren Bach, der sich durch das blumengesäumte Gelände schlängelte. Die Luft war erfüllt von Düften, und alles schimmerte unter dem violetten Kuss der untergehenden Sonne.
Lysander öffnete die Tür und neigte den Kopf, eine stumme Einladung. Ich trat vor, in den Garten gezogen, als wäre ich an einer unsichtbaren Leine. Die Wärme der letzten Sonnenstrahlen tauchte den Garten in einen verträumten Dunst und überzog die Blüten mit bernsteinfarbenem Licht.
Dann sah ich sie.
Eine einzelne Blume ragte inmitten der wilden Schönheit empor – ihr rosafarbener Stiel wand sich anmutig empor und mündete in immergrüne, trompetenförmige Blütenblätter. Eine Lunasylvane, selten und heilig für das Blutmondrudel. Die Blume meiner Heimat. Meiner Kindheit.
Eine Welle von Gefühlen stieg schnell, heftig und unerwartet in mir auf. Ich biss mir auf die Lippe und blinzelte kräftig. Aber es half nichts – die Tränen kamen trotzdem.
„Hey“, murmelte Lysander hinter mir, näher als erwartet. Seine Hand fand meine Schulter, fest, aber sanft, und er drehte mich zu sich um.
Meine Sicht verschwamm. Ich starrte zu ihm auf, beschämt und doch zu überwältigt, um es zu verbergen.
„Was ist los?“, fragte er. Seine Stimme war nun weicher, leiser. „Warum weinst du?“
Ich konnte es in seinem Gesicht sehen – aufrichtige Sorge. Etwas Echtes. Etwas Unverfälschtes.
„Die Blume …“, stammelte ich und deutete schwach darauf. „Sie – sie wächst nur in meiner Heimat. Auf den Wiesen bei den alten Quellen. Ich habe keine mehr gesehen, seit …“ Meine Stimme brach.
„Seit du gegangen bist“, beendete er den Satz, nicht unfreundlich.
Ich lachte brüchig auf. „Ist es so offensichtlich?“
Tränen liefen nun ungehindert meine Wangen hinab. Verlegen senkte ich den Blick. Ich war die Erbin des Blutmondrudels. Tochter von Königin Celeste und König Fenris. Ich war zu Stärke erzogen worden, zur Pflichterfüllung. Ich sollte nicht wegen einer Blume zusammenbrechen.
Aber hier war ich.
Eine raue Hand legte sich an meine Wange. Ich zuckte zusammen – und lehnte mich dann in die Wärme, bevor ich mich davon abhalten konnte. Sein Daumen strich unter mein Auge und fing eine Träne auf.
„Es ist keine Schande, das zu vermissen, was dich ausmacht“, sagte Lysander, und seine Worte hallten wie ein Schwur in mir wider.
Ich schloss die Augen, und ein Flüstern entwich meinen Lippen. „Danke.“
Etwas veränderte sich im Raum zwischen uns. Ein zerbrechlicher, elektrisierender Faden der Verbindung. Meine innere Wölfin regte und streckte sich in mir, schnurrte unter seiner Berührung. Sie wollte das. Ihn. Uns.
Ich hätte mich zurückziehen sollen.
Aber ich tat es nicht.
Als seine Hand meine Haut schließlich verließ, war die Leere wie Winter, der meine Adern durchflutete. Ich öffnete die Augen und sah, dass er mich mit einem Blick beobachtete, den ich nicht deuten konnte – zerrissen zwischen Zurückhaltung und etwas viel Tieferem.
Dann wurde die Stille von einem unverkennbar wölfischen Geräusch durchbrochen.
Mein Magen knurrte – laut.
Lysanders Augenbraue hob sich. Er musterte die Umgebung, als bereitete er sich auf eine Bedrohung vor, bis sein Blick auf meinem verräterischen Bauch landete. Er grinste.
„Ich sehe, da hat jemand Hunger.“
Ich stöhnte auf und ließ den Kopf sinken. Er lachte – ein tiefes, sattes Geräusch, das aus seiner Brust grollte.
„Komm schon“, sagte er und streckte seine Hand aus. „Ich lasse die Köche etwas zubereiten.“
Ich zögerte. Seine Finger waren lang, elegant, unmöglich warm.
„Du willst, dass ich … dich berühre?“, fragte ich und starrte ihn an.
Sein Lächeln verschwand. „Nur dieses eine Mal“, sagte er steif. „Ihr Wölfe braucht doch Berührung, um eure Gefühle zu beruhigen, oder?“
„Woher weißt du das?“
„Ich mache es mir zur Aufgabe, meine Feinde zu studieren.“
Ich zog eine Augenbraue hoch. „Das bin ich also für dich?“
Er antwortete nicht.
Meine Wölfin knurrte über die Unentschlossenheit. Sie krallte sich von innen an mich, verlangte nach der Berührung. Je länger ich zögerte, desto schlimmer wurde es.
Na schön. Nur dieses eine Mal.
Ich nahm seine Hand.
Er verschränkte unsere Finger. Der Schock traf mich wie ein Blitz – Wärme, ein Kribbeln, ein unbestreitbares Gefühl der Richtigkeit, das meine Wölfin zufrieden schnurren ließ.
„Um das klarzustellen“, sagte ich. „Das hier bedeutet nichts.“
„Glasklar“, murmelte er. „Genieß es, solange es dauert, Prinzessin.“
Ich kniff die Augen zusammen. „Nenn mich nicht so.“
„Das ist dein Titel“, sagte er trocken. „Oder wäre dir ‚Fellknäuel‘ lieber?“
Ich knurrte leise in meiner Kehle. Er kicherte und führte mich durch die gewundenen Gänge des Nachtschattenhofs zum Speisesaal.
Wir kamen an einem langen Obsidiantisch an, der im Kerzenlicht glitzerte. In dem Moment, als ich mich setzte, tauchte ein Schatten hinter mir auf.
„Das ist also die Wölfin, über die alle flüstern.“
Die Stimme war wie Seide und Gewürze – und zutiefst irritierend. Ich drehte mich um und sah einen großen männlichen Schatten-Fae mit leuchtend rubinroten Augen und mitternachtsschwarzem Haar, das seine breiten Schultern streifte. Er grinste auf mich herab, seine Reißzähne kaum sichtbar.
„Prinz Darius“, sagte Lysander kühl von der anderen Seite des Tisches.
Ah. Sein Bruder. Der vom Gipfeltreffen.
Darius zog seine Klauen über die Lehne meines Stuhls, ganz offensichtlich, um mich zu provozieren. „Hätte nicht gedacht, dass dein Geschmack in Richtung wilder, knurrender Wölfe geht, Bruder.“
Lysanders Augen verdunkelten sich, violette Flammen züngelten in den Winkeln. Die Luft wurde dick vor Magie – beschützend, territorial. Meine innere Wölfin plusterte sich auf.
Trotzdem brauchte ich keinen Schutz.
Ich fuhr meine Krallen aus und lächelte Darius zuckersüß an. „Fass meinen Stuhl noch einmal an, und ich erleichtere dich um deine Juwelen.“
Sein Blick fiel auf meine Hand … auf die Krallen. Er wurde blass.
Mit einem erstickten Fluch zog er sich zurück, murmelte etwas vor sich hin und schlich zu Lysanders Seite.
Meine Wölfin schnurrte. Zufrieden.
Auf der anderen Seite des Tisches wichen Lysanders Schatten zurück. Unsere Blicke trafen sich – und er zwinkerte mir zu. Ich errötete und sah nach unten, schob das Essen auf meinem Teller hin und her, um zu verbergen, wie sich meine Lippen zu einem Lächeln verzogen.
Das Gericht roch exotisch – gegrilltes Fleisch und etwas Scharfes. Nach einem Bissen kribbelte meine Zunge.
„Was ist das?“, fragte ich und blinzelte angesichts des unbekannten, aber köstlichen Geschmacks.
„Hühnchen-Shapala“, sagte Lysander.
„Ich mag es.“
Er schenkte mir ein kleines Lächeln. Nur ein Zucken in seinen Mundwinkeln. Aber es war echt.
Dann trat sie ein.
Eine große, geschmeidige Frau mit bernsteinfarbenen Augen und einer stürmischen Aura. Ihr Haar war dunkle Seide und ihr Outfit war – freizügig. Alles Kurven und Attitüde.
„Warum zum Teufel hältst du dir den Schwanz?“, fragte sie Darius und zog eine Augenbraue hoch.
Ich verschluckte mich an meinem Getränk.
„Sie hat gedroht, ihn zu entfernen“, sagte Lysander ausdruckslos.
„Lys!“, rief ich entsetzt.
Die Frau lachte. „Ich mag sie.“
Darius starrte sie wütend an. Lysander zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Sei nicht so ein Arsch, Darius. Das würde nicht passieren, wenn du dich benehmen würdest.“
„Ich benehme mich doch“, murmelte Darius.
Die drei begannen ein spielerisches Gezänk, scharfe Sticheleien, die in Geschwisterliebe gehüllt waren. Ich sah fassungslos zu.
Sie waren Fae – uralt, mächtig und furchterregend. Aber hier … so? Sie wirkten fast normal.
Ich dachte an Rowan – meinen Bruder. Wie wir während des Trainings gelacht hatten, uns gegenseitig aufzogen, wenn niemand hinsah.
Meine Brust schmerzte.
Ich blickte über den Tisch und sah, dass Lysander mich wieder beobachtete.
Etwas Warmes ging zwischen uns hin und her.
Und zum ersten Mal, seit ich an diesem kalten, fremden Ort angekommen war …
… fühlte ich mich nicht mehr so allein.
