Kapitel 9

„Seraphina“, flüsterte ich, meine Stimme kaum hörbar.

Sie drehte sich nicht um. „Bitte … geh einfach.“

Die Worte trafen härter als jede Klinge es je gekonnt hätte. Ich fühlte mich leer, ausgeweidet, als hätte sie in meine Brust gegriffen und das letzte Fünkchen Hoffnung, das noch in mir glomm, herausgerissen.

Ich widersprach nicht. Konnte es nicht. Stattdessen drehte ich mich um und folgte den Wachen schweigend. Meine Schritte hallten durch den hochgewölbten Korridor wie das Läuten einer Totenglocke. Das Morgenlicht fiel durch die Buntglasfenster und warf gebrochene Muster auf den kalten Marmorboden. Lange Schatten krochen hinter uns her – als spürte der Palast selbst, was bevorstand.

Jede Wache, an der wir vorbeikamen, nickte respektvoll, doch selbst ihre gewohnte stoische Ruhe wirkte angespannt. Als warteten auch sie auf etwas … Düstereres.

Am Ende des Ganges standen die vergoldeten Türen zum Thronsaal geschlossen und ragten auf wie die Tore einer uralten Gruft. Zwei Wachen traten synchron vor und ergriffen die schweren Ringgriffe. Mit einem Ächzen von Metall und Holz schwangen die Türen auf.

Der Raum war leer.

Keine Adligen. Kein Geflüster. Nur Stille.

Ich zögerte.

Der Samtteppich zog sich wie eine Blutspur über den glänzenden Boden und endete bei den beiden Thronen auf dem Podest. Mein Vater saß auf dem größeren – König Malachar, königlich und imposant in mitternächtlichen Roben. Königin Ravenna, meine Mutter, saß zu seiner Linken, ihre schwarzen Augen glitzerten wie Obsidiansplitter. Das Lächeln auf ihren Lippen war schwach … und undurchschaubar.

„Der Hof wurde entlassen“, verkündete der König, seine Stimme rollte wie Donner durch den Saal. „Wir haben private Angelegenheiten zu besprechen.“

Ich trat vor, während jeder Instinkt in mir schrie, umzukehren und zu fliehen.

„Ihr habt mich gerufen?“, fragte ich mit hohler Stimme.

Die Miene meiner Mutter verhärtete sich. „Dieser Ton, Lysander“, tadelte sie sanft. „Etwas mehr Respekt für deinen König.“

Ich nickte knapp und zwang die Worte hervor. „Ja … Mutter.“

Sie schien zufrieden, obwohl ihre Augen mich unentwegt musterten.

Ich blieb vor dem Podest stehen und mein Blick traf den meines Vaters. „Ja, Vater?“

Er trommelte mit einem klauenartigen Finger auf die Armlehne und musterte mich wie eine Beute. „Sag mir … wie geht es der Prinzessin?“

Mein Herz verkrampfte sich. Bilder schossen mir durch den Kopf – Seraphinas gequälte Augen im Garten, ihre Stimme, als sie fragte: Wollen wir diesen Friedensvertrag wirklich?

„Sie … gewöhnt sich ein“, sagte ich schließlich. „So gut, wie man es eben kann.“

Die Lippen der Königin kräuselten sich. „Sie hat sich mehr als nur eingewöhnt. Sie blüht auf – und das deinetwegen. Das hast du gut gemacht, Lysander.“

Ich sagte nichts. In meinem Inneren wand sich die Schuld wie eine Klinge. Wenn sie nur wüssten, wie zerrissen ich wirklich war.

König Malachars Augen verengten sich. „Etwas liegt dir auf der Seele.“

Ich wollte es nicht aussprechen. Ich wusste, was passieren würde, sobald ich es tat. Doch die Worte drängten sich nach vorn, bitter und unaufhaltsam.

„Ich weiß, wofür die Verlobung steht“, sagte ich vorsichtig. „Was sie für unser Volk bedeutet, für den Frieden zwischen unseren Königreichen. Aber ich … ich habe vor all dem Versprechen gemacht. Versprechen, die ich nicht vergessen habe.“

Königin Ravenna erstarrte. „Was für Versprechen?“

Doch mein Vater wusste es bereits. Sein Kiefer spannte sich an. „Rosalina Darro.“

Der Gesichtsausdruck meiner Mutter wurde sauer wie verdorbener Wein. „Dieses Mädchen?“, zischte sie. „Immer noch? Lysander, diese gewöhnliche Fae ist nichts als eine Ablenkung. Sie schreitet durch diese Hallen, als würden sie ihr gehören.“

„Sie ist Kierans Schwester“, sagte ich mit schärferem Ton. „Ich habe einen Blutschwur geleistet.“

Die Stimme des Königs donnerte. „Und ich habe gesagt, es reicht. Du wirst die schicksalhafte Verbindung nicht entehren, indem du alten Geistern nachjagst. Rosalina ist für diesen Hof von keinerlei Nutzen, und ich verbiete dir, ihren Namen noch einmal auszusprechen.“

Ich biss die Zähne zusammen. „Ihr sprecht von Nutzen, als wäre das alles, was zählt. Sie ist edler als die Hälfte der Speichellecker, die euch zu Füßen knien.“

Meine Mutter erhob sich, rasend vor Wut. „Nimm dich in Acht, Lysander …“

„Ravenna“, warnte der König und hob eine Hand.

Sie verstummte, ihr Blick brannte sich wie eine Flamme in mich ein.

Der König beugte sich vor, sein Blick eisig. „Du wirst deine Pflicht tun. Die Zeit ist gekommen, Seraphina unseren Verbündeten vorzustellen. Beim nächsten Vollmond wirst du sie dem Hof präsentieren … und den Shahar vollziehen.“

Mir stockte der Atem.

Nicht der Shahar.

Nicht das.

Der uralte Ritus – vollzogen vor dem gesamten Königreich – würde uns in den Augen des Reiches unumkehrbar aneinander binden. Keine Geheimnisse mehr. Kein Entkommen.

„Habe ich mich klar ausgedrückt?“, fragte er, seine Stimme wie Stein, der auf Stein rieb.

„Ja, mein König“, zwang ich hervor, obwohl mir Galle in der Kehle brannte.

„Gut. Du bist entlassen.“

Ich verbeugte mich steif und drehte mich um, jeder Muskel in meinem Körper schmerzte vor unterdrückter Wut. Als die Türen hinter mir ins Schloss fielen, brach der Zorn aus mir heraus – ich spürte, wie meine Krallen ausfuhren und sich in meine Handflächen schnitten, das Blut heiß und purpurrot.

Eine gewöhnliche Fae sei sie, hatte er gesagt. Als ob das ihren Wert minderte. Als ob Kierans Opfer – der Blutschwur ihres Bruders – nichts bedeutete.

Ich stürmte in Richtung der Gärten, die Wut kaum gezügelt.

Lachen drang an mein Ohr. Ich erblickte Seraphina, die lächelnd mit drei Dienerinnen sprach. Der Klang ihrer Freude schnitt tiefer als jede Beleidigung, die meine Eltern mir an den Kopf geworfen hatten. Er erinnerte mich an alles, was ich zu verlieren drohte – und an alles, von dem ich nicht sicher war, ob ich es verdiente.

Sie bemerkte mich. Ihr Lächeln erstarb in dem Moment, als sie das Blut sah, das von meinen Klauen tropfte.

Mit einem leisen Wort entließ sie die anderen. Sie verbeugten sich und stoben auseinander wie aufgeschreckte Vögel.

„Lysander“, sagte sie und kam auf mich zu. „Was ist passiert? Was hat dein Vater gesagt?“

Ich konnte es ihr nicht sagen. Wenn sie wüsste, was ich versucht hatte – wenn sie wüsste, dass der König mich beinahe aus der Blutlinie verstoßen hätte –, war ich mir nicht sicher, ob sie mich jemals wieder so ansehen würde wie zuvor.

Ich wandte mich mit zusammengebissenen Kiefern ab.

„Lys“, flüsterte sie und ihre Finger strichen über meinen Arm. „Sieh mich an.“

Langsam tat ich es.

Ihre Augen suchten meine. „Ist es … so schlimm?“

Ich versuchte zu lächeln. Es zerbrach auf halbem Weg. „Kommt drauf an, wie du zu öffentlicher Demütigung stehst.“

Ihre Stirn legte sich in Falten. „Lysander – was ist los?“

Ich zögerte.

Dann sagte ich: „Du wirst mit mir einen königlichen Ball besuchen.“

Sie blinzelte. „Das ist alles?“

„Nein“, murmelte ich, kaum hörbar. „Das ist erst der Anfang.“

Und irgendwo tief im Palast lauschte jemand.

Und war ganz und gar nicht erfreut.

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