5- Mein Geschmack

Statt mir zu antworten, wartete er ein paar Sekunden, was mich unglaublich unsicher machte. Dann nickte er mir zu und trat einen Schritt zurück, um mich hereinzulassen.

„Danke“, murmelte ich leise und ging schnell zum Kaffeetresen.

Der geheimnisvolle Schönling ging um den Tresen herum und begann, den Kaffee zuzubereiten.

Obwohl ich nicht wie eine verzweifelte, notgeile Frau wirken wollte, wanderte mein Blick immer wieder zu ihm zurück.

So wie er aussah, war es unmöglich, sich vorzustellen, dass er ein Barista war.

Aber wer war ich, um jemanden zu beurteilen?

„Dein Geschmack?“ Seine Stimme ließ mich fast zu Boden fallen vor Schreck.

„Was?“ Meine Augen schnellten zu ihm hoch.

„Beim Kaffee.“ Er antwortete, der Humor war deutlich in seiner Stimme zu hören.

„Welche Art von Kaffee möchtest du?“

In diesem Moment konnte ich nicht in Worte fassen, wie sehr ich mein Gesicht in etwas vergraben wollte. Wie ein Kissen. Oder wahrscheinlich wäre der Boden gut. Dann müsste ich mich nie wieder so sehr schämen.

„Latte“, sagte ich, stolz darauf, dass ich sprechen konnte, ohne zu krächzen.

„Neu hier?“ fragte er beiläufig, während er den Kaffee in einer Tasse umrührte.

„Ja.“

Woher zum Teufel weiß er das?

Wahrscheinlich der Akzent oder der beschissene Zustand meines erdverkrusteten, erschöpften Gesichts.

„Was führt dich nach Bayern?“

„Ich bin hier, um jemanden zu treffen“, antwortete ich leise.

„Freund?“ Seine Hand, die den Kaffee umrührte, hielt für einen Moment inne.

„Nein“, antwortete ich.

Warum zum Teufel musste ich das sagen?

Egal. Was macht das schon für einen Unterschied?

Seine Hand rührte den Kaffee wieder um und nach ein paar Minuten reichte er mir die Tasse.

„Wen willst du treffen?“ fragte er, „Vielleicht kann ich dir helfen?“

Ich dachte einen Moment darüber nach. Soweit ich wusste, war das der Laden meines Onkels. Also musste ich natürlich fragen, wo er war.

„Ähm...“ Ich zögerte, „Kennst du Vincent Argeva?“

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, änderte sich die Atmosphäre um uns herum.

Ich spürte buchstäblich den Mangel an Sauerstoff um mich herum, als sich sein Verhalten vor meinen Augen veränderte.

Der sorglose, flirtende Blick war verschwunden und wurde durch eine aktive, interrogative Haltung ersetzt.

„Warum willst du ihn treffen?“ fragte er.

Der ganze Humor in seiner Stimme war verschwunden. Er war durch eine strenge, ernste Haltung ersetzt worden. Es war, als hätte der Mann vor mir in nur zwei Sekunden den Körper gewechselt.

Bevor ich antworten konnte, ertönte hinter mir ein dröhnendes Lachen,

„Hope..?“

Und ohne mich umzudrehen, erkannte ich die Stimme, die meine Erinnerungen seit mehr als einem Jahrzehnt verfolgte.

Ich drehte mich auf meinen Hausschuhen um und sah einen großen, kräftigen Mann mit einem Bart, der die Hälfte seines Gesichts verdeckte, und einem schwarzen Bandana, das die lockigen Haare auf seinem Kopf hielt.

Sein Mund war zu einem so breiten Lächeln verzogen, dass ich jeden seiner Zähne sehen konnte. Er sah aus wie Hagrid aus den Harry-Potter-Filmen, abgesehen vom Bandana und dem Körper ohne Fett.

Meine Augen füllten sich sofort mit Tränen bei seinem Anblick.

Nach so vielen Jahren... Gott..!

„Onkel Vincent“, flüsterte ich mit erstickter Stimme.

Er gab mir keine Chance, noch etwas zu sagen. Bevor ich die Tränen wegblinzeln konnte, machte er große, schnelle Schritte auf mich zu, und dann war ich in einer verdammt engen Umarmung gefangen.

Ich war winzig vor seinem großen Körperbau. Also hob er mich einfach hoch, sodass ich in seinen Armen gefangen war, und wirbelte mich mit einem glücklichen, dröhnenden Lachen herum.

Und ich hatte mir Sorgen gemacht, wie peinlich unser Treffen werden würde.

„Ich habe dich vermisst, Onkel Vincent“, flüsterte ich. Meine Augen schlossen sich vor Glück, während Tränen über meine Wangen liefen.

Als ich sie öffnete, starrte ich direkt in die dunklen Ozeanaugen. Seine Augen kräuselten sich an den Ecken, während er mich intensiv anstarrte.

„Ich auch, mein liebes Mädchen“, rief Vincent leise in mein Ohr, obwohl er versuchte, die Worte sanft zu sagen.

Nach ein paar Sekunden setzte er mich auf den Boden, hielt mich aber in einer seitlichen Umarmung fest an sich gedrückt.

„Max!“ Vincents Stimme hatte wieder ihren lauten, dröhnenden Klang, während er mich dem Barista zuwandte,

„Lerne die schönste Frau der Welt kennen. Das ist meine Nichte, Hope.“

Er nickte mir sexy zur Begrüßung zu, während sich der Mundwinkel zu einem Lächeln verzog.

„Hope, das ist Max. Er leitet eine Privatdetektei.“

Mein Kopf schnellte so schnell hoch, dass mein Nacken buchstäblich hätte brechen können. Meine Augen starrten entsetzt auf das Gesicht von Onkel Vincent.

Der Barista.

Derjenige, den ich gerade gebeten hatte, einen Kaffee zu machen.

Verdammt nochmal.

Und er leitet eine Privatdetektei!

Es scheint, als würde mein Aufenthalt bei meinem Onkel nicht so lange dauern, wie ich ursprünglich geplant hatte.

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