Milchshakes.

Envy

Die beiden waren den ganzen Tag schon auf eine seltsame und nervtötende Weise nett. Es ist fast schon unheimlich. Heute Morgen haben sie Cindy und ihre Tussigruppe zurechtgewiesen und sind den Rest des Tages wie überfürsorgliche Wachhunde um mich herumgeschwirrt. Als es Zeit war, zum Rotmondrudel aufzubrechen, wollten sie sogar mitkommen, aber ich habe so energisch protestiert, dass Theo tatsächlich aufhörte zu lächeln. Das war befriedigend. Ich hatte Aleisha vorhin eine Nachricht geschrieben und ihr gesagt, dass sie mich heute an einem anderen Ort treffen soll. Gestern auf dem Weg durch die Stadt war mir eine riesige Felswand auf ihrem Land aufgefallen, eine von der Sorte, die mich praktisch anflehte, sie zu erklimmen. Aleisha ließ sich von Tommy absetzen, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass wir nicht kurz davor waren, zu sterben, ließ er uns mit einem besorgten Blick zurück.

„Also, was lernen wir heute? Bitte sag mir, dass es was von diesem knallharten Messerkram ist“, sagt sie und hüpft auf der Stelle.

„Nö. Heute, meine Liebe, klettern wir da hoch.“

Ich deute mit dem Daumen über meine Schulter auf den verdammt steilen Berg hinter mir. Aleisha bricht in Gelächter aus. Kein Kichern. Ein lautes, schallendes Lachen, bei dem sie sich krümmen und Tränen aus den Augen wischen muss. Langsam richtet sie sich auf, sieht mein ernstes Gesicht und erstarrt. „Das ist ein Witz, oder?“

„Keineswegs. Das wird ein Spaß.“

„Das ist deine Vorstellung von Spaß? Wie soll das überhaupt Training sein? Wann werde ich jemals einen Berg erklimmen müssen, um jemandes Leben zu retten?“

Ich zucke lässig mit den Schultern. „Es geht um Ausdauer in deiner menschlichen Gestalt. Du wirst nicht immer in der Lage sein, dich zu verwandeln. Du musst diese Form genauso trainieren wie die deiner Wölfin.“

Sie stöhnt, als hätte ich ihr ganzes Leben ruiniert. „Na schön. Aber danach holen wir uns Milchshakes.“

„Was auch immer du sagst. Komm schon.“

Für mich ist der Aufstieg einfach. Ehrlich gesagt entspannend. Der Wind ist kühl, der Fels von der Sonne erwärmt, und die Aussicht wird mit jedem Schritt besser. Aleisha hingegen – selbst mit der Kraft ihrer Wölfin, die sie unterstützt – schwitzt genug, um einen Eimer zu füllen. Leise murmelt sie immer wieder Flüche gegen den Berg.

„Man sollte meinen, als Tochter eines Alphas hätte er dich besser trainiert“, necke ich sie.

„Er hat mich trainiert. Er hat mich nicht gefoltert!“

„Komm schon“, rufe ich über meine Schulter. „Die Aussicht hier oben ist großartig. Du verpasst sonst den Sonnenuntergang.“

Das bringt sie in Bewegung. Sie hievt sich die letzten Meter hoch, und als sie nah genug ist, strecke ich meine Hand aus, ergreife ihre und ziehe sie auf festen Boden.

„Wow“, haucht sie.

„Oder?“, sage ich, reiche ihr eine Wasserflasche und lasse mich neben ihr an der Kante nieder. Der Himmel ist von Orange- und Rosatönen durchzogen, die Stadt unter uns leuchtet sanft. Es ist friedlich. Ich habe nicht viele friedliche Momente.

„Hey … wie kommt dein Motorrad eigentlich schon hier hoch?“, fragt sie.

„Ich habe hier oben geparkt und bin runtergelaufen, um dich zu treffen. Zum Aufwärmen.“

„Das ist ein absurdes Aufwärmprogramm.“

„Vielleicht.“

„Und du hast einen zweiten Helm mitgebracht?“ Ihr Grinsen wird breiter, als hätte sie ihr ganzes Leben darauf gewartet, dass ihr jemand so etwas anbietet.

„Ja. Dachte, du hättest vielleicht Lust auf eine Spritztour.“

Sie quietscht und wirft mich rücklings ins Gras. „Oh mein Gott. JA. Meine Brüder würden mich NIEMALS in die Nähe eines Motorrads lassen!“

„Oh … ist es dann vielleicht doch keine so gute Idee?“

„Pffft! Die beste Idee überhaupt. Reite mit mir in den Sonnenuntergang, Baby!“

Ich lache und stehe auf, um den Ersatzhelm zu holen. „Komm her. Lass mich den mal anpassen. Ich habe keine Ersatz-Lederkluft, aber es ist ja nicht so, als hätte ich vor, dich runterfallen zu lassen.“

Sie kichert, während ich die Riemen einstelle. Ich ziehe wieder meine Lederhose an, tausche meine Jogginghose gegen Stiefel und gebe Aleisha für alle Fälle meine Jacke. Sie klettert hinter mir auf, als ich ihr meine Hand reiche.

„Wir haben Mikrofone in den Helmen. Sag mir, wenn du langsamer fahren oder anhalten willst. Lehn dich in die Kurven, wenn ich es tue. Halt dich gut an mir fest. Und wenn ich bremse, leg deine Hand auf den Tank, damit du nicht in mich reinrutschst. Verstanden?“

„Ja!“ Sie schlingt sofort ihre Arme um mich und umklammert mich, als wäre ich ihr Rettungsfloß.

Das Motorrad springt mit einem tiefen Grollen an, und sie quietscht durch das Mikrofon. Ich fahre mit ihr ein paar Runden durch die Stadt, lasse sie spüren, wie man sich in die Kurven legt und wie leicht der Wind an einem vorbeirauscht. Die ganze Zeit über kreischt und lacht sie mir ins Ohr. Es ist süß. Dann zeigt sie auf ein kleines Diner. Wir halten an, um uns Milchshakes zu holen, und setzen uns an einen kleinen Picknicktisch unter Lichterketten. Es fühlt sich wie einer dieser Momente an, die normale Mädchen wahrscheinlich ständig erleben. Ich nicht. Aber irgendwie gefällt es mir.

„Hey, solltest du nicht langsam zum Abendessen zurück in deinem Rudel sein?“, fragt Aleisha.

„Nee, heute Abend nicht. Jenny hat mir freigegeben. Musst du bald zurück?“

Sie seufzt lang und ausgiebig. „Wahrscheinlich. Mein Gefährte und meine Brüder werden höchstwahrscheinlich eine ganze Armee ausschicken.“

Ich lache, werfe meinen leeren Becher weg und strecke mich. „Na gut dann. Bringen wir die Prinzessin mal nach Hause.“

Xavier

Wir hatten heute absolut kein Glück dabei, unsere Gefährtin zu finden. Oder letzte Nacht. Oder heute Morgen. Nichts. Die Jungs wurden unruhig, liefen auf und ab wie eingesperrte Raubtiere, und was tun sie, wenn sie gestresst sind? Sie vergraben sich in irgendeiner Frau. Idioten. Wenigstens hat Haiden einen Funken Verstand. Seit wir gestern unsere Gefährtin gewittert haben, hat er mit jeder Wölfin Schluss gemacht und aufgehört, herumzualbern. Noah und Levi? Hoffnungslose Fälle. Seit Mama und Papa vor Ewigkeiten ausgezogen sind, ist es unsere Aufgabe, im Rudelhaus das Abendessen zu kochen. Natürlich habe ich Omegas damit beauftragt, aber normalerweise sind wir trotzdem anwesend. Heute Abend komme ich in unser privates Esszimmer und finde es leer vor. Essen auf dem Tisch. Keine Brüder. Keine Schwester. Keine Gefährtin. Kein gar nichts. Ich weiß, wo Noah und Levi sind. Wahrscheinlich immer noch bei diesen beiden Kletten, die sich für zukünftige Lunas halten. Aber wo sind Haiden, Tommy … und Aleisha?

Ich verbinde mich gedanklich mit Haiden. „Wo bist du?“

„Unten. An der Bar.“

Natürlich. Er ertränkt seinen Kummer mal wieder in Alkohol.

Als Nächstes verbinde ich mich mit Tommy. „Wo seid ihr, du und meine Schwester?“

„Wir warten draußen vor der Tür auf sie. Das Training hat länger gedauert.“

„Wie länger? Sie sollte doch schon vor Ewigkeiten fertig sein.“

„Sie hat sich bei mir gemeldet. Sagte, sie hätten für Milchshakes angehalten. Sie sollte aber bald zu Hause sein.“

Ich runzle die Stirn. Normalerweise wäre es mir egal, aber nach dem Geruch unserer Gefährtin gestern sind alle nervös. Selbst wenn Aleisha nur zehn Minuten zu spät kommt, reicht das schon, um uns zucken zu lassen. Ich gehe nach unten, um mit Tommy zu warten. Wenn sie vom Weg abgekommen ist, kriegt sie was zu hören. In der Ferne knattert der Motor eines Motorrads, und Tommys Gesichtszüge entgleisen. Meine auch.

„Sie ist auf einem Motorrad?“, frage ich langsam.

„Das will ich verdammt noch mal nicht für sie hoffen“, knurrt Tommy.

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