Kapitel 2
Ethans Perspektive
Der makellose Marmorboden glänzte unter den grellen fluoreszierenden Lichtern. Ich blickte auf Lucy Owen hinab, deren elegante Gesichtszüge sich vor Verzweiflung verzerrten, als sie vor mir kniete und die Finger in den Saum meines Anzugs krallte. Tränen dunkelten den teuren Stoff.
„Bitte, Ethan“, flehte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Nur zwei Stunden. Das ist alles, was ich verlange. Um mich von meiner Großmutter zu verabschieden.“
Ich spürte, wie sich mein Kiefer anspannte. Die Dreistigkeit dieser Frau. „Bundesvorschriften sind nichts, was man mit Geld umgehen kann, Lucy. Das weißt du.“
Sie blickte auf, Tränen strömten ihr übers Gesicht. „Aber du hast es schon früher getan. Jedes Mal, wenn Ivy Blut brauchte, hast du es geschafft, mir vorübergehende Freilassung zu gewähren.“ Ihre Stimme brach. „Meine Großmutter hat mich nach dem Tod meiner Eltern großgezogen. Sie war alles, was ich hatte.“
„Das war etwas anderes.“ Die Worte kamen scharf und klinisch heraus. „Ivys medizinische Bedürfnisse sind ein legitimer Grund für eine Freilassung aus Mitgefühl. Eine Beerdigung ist es nicht.“
„Ich werde alles tun.“ Ihre Finger klammerten sich fester an meinen Anzug. „Ich werde Ivy weiterhin Blut geben, wann immer sie es braucht. Bitte, lass mich nur—“
„Das ist bereits deine Verpflichtung.“ Ich schnitt ihr kalt das Wort ab. „Oder hast du vergessen, warum Ivy im Rollstuhl sitzt?“
Lucy zuckte zusammen, als hätte ich sie geschlagen. Gut. Sie brauchte die Erinnerung.
„Bitte, Ethan“, Lucys Stimme brachte mich in die Gegenwart zurück, ihre braunen Augen funkelten vor Tränen. „Nur zwei Stunden, um sich zu verabschieden.“
Etwas in Lucys verzweifeltem Flehen rührte an einer Ecke meines Herzens.
Einen Moment lang schwankte ich fast. Dann dachte ich an Ivy, die wegen dieser Frau für immer an den Rollstuhl gefesselt war.
Wie verdammt nochmal konnte sie Ivy verletzen? Sie verdiente es.
Meine Stimme wurde eisig. „Die Antwort ist nein, Lucy. Sei dankbar, dass du nur ein Jahr bekommen hast.“
Lucys Perspektive
Ich brach auf dem kalten Zementboden meiner Zelle zusammen, die fluoreszierenden Lichter summten wie wütende Wespen über mir. Mein Arm pochte immer noch von der Blutabnahme. Bevor meine Tränen getrocknet waren, hörte ich die vertrauten, bedrohlichen Schritte näherkommen.
Nicht sie. Nicht schon wieder.
Ich kämpfte darum, aufzustehen, aber vertraute Hände packten mein Haar von hinten und rissen mich hoch.
„Sieh mal, wer hier ist“, höhnte eine raue Stimme in meinem Ohr. „Unsere kleine Prinzessin versucht wieder zu entkommen?“
Es waren sie—die Frauen, die mich seit Monaten quälten.
„Bitte“, würgte ich hervor, „nicht heute... sie haben mir gerade Blut abgenommen...“
Fünf stämmige weibliche Insassen umkreisten mich wie hungrige Wölfe. Ihre Anführerin, eine Frau mit einem von Narben gezeichneten Gesicht, grinste, zeigte vergilbte Zähne und schlug mich hart. Mein Ohr klingelte sofort, warme Flüssigkeit tropfte aus dem Mundwinkel.
„Warum?“ verlangte ich verzweifelt, Tränen verschwammen meine Sicht. „Was habe ich dir jemals getan? Warum zielst du immer auf mich?“
„Weil du so besonders bist, Prinzessin,“ höhnte der Anführer und schlug mir in den Magen, sodass ich mich vor Schmerzen krümmte. Sie waren Experten darin – immer dort zu schlagen, wo die Kleidung es verdeckte, keine sichtbaren Spuren hinterlassend.
Das war seit Monaten meine tägliche Realität. Nicht nur Schläge – sie stahlen mein Essen, durchnässten meine Bettwäsche, schütteten Eiswasser über mich, während ich schlief. Manchmal, wenn andere Insassen im Freizeitraum waren, sperrten sie mich in den Wäschetrockner, bis ich fast erstickte.
„Warum macht ihr das?“ schrie ich. „Ich kenne keinen von euch. Ich habe euch nie etwas getan!“
Die Frau mit den tätowierten Armen warf mir einen verächtlichen Blick zu. „Wer glaubst du, dass du bist? Reich geheiratet und jetzt denkst du, du bist etwas Besonderes?“
„Wer hat euch dazu gebracht?“ Ich starrte sie an.
Die tätowierte Frau schien etwas sagen zu wollen, aber der Anführer warf ihr einen warnenden Blick zu.
„Halt den Mund,“ warnte der Anführer sie, dann wandte er sich zu mir, Gefahr blitzte in seinen Augen. „Du musst nicht so viel wissen, nur dass du die falsche Person verärgert hast.“
„Wen habe ich verärgert?“ fragte ich, mein Geist raste. Wer würde mich so sehr hassen? Wer hatte die Macht, all das im Gefängnis zu arrangieren?
„Du bist so dumm,“ höhnte die tätowierte Frau plötzlich, offensichtlich unfähig, sich zurückzuhalten. „Weißt nicht einmal, warum du im Gefängnis bist –“
Der Anführer packte die Kehle des Mädchens heftig. „Ich sagte, halt den Mund!“
Ein Gedanke traf mich wie ein Blitz. Mein Herz sank. Ivy Wilson.
„Sie ist es,“ sagte ich leise, jetzt alles verstehend.
Der Anführer ließ das Mädchen los, verengte die Augen und ein kaltes Lächeln spielte auf ihren Lippen. „Kluges kleines Miststück. Aber was bringt es dir, richtig zu raten? Denkst du, irgendjemand würde dir glauben?“
Sie beugte sich herunter, ihr Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt, ihr Atem stank nach Zigaretten. „Du hast dich in die Beziehung von jemand anderem eingemischt, du zahlst den Preis.“ Sie grinste, „Sie sagte, wir sollen dir zeigen, wie sich die Hölle anfühlt.“
Sie gab den anderen ein Zeichen, und zwei packten sofort meine Arme und zerrten mich in eine Toilettenkabine.
„Nein, bitte!“ Ich kämpfte, Panik überkam mich.
Fäuste prasselten auf mich ein wie Hagelkörner, jeder Schlag drohte, meine Knochen zu brechen. Ich konnte hören, wie meine Rippen knackten, Schmerz explodierte in meinem ganzen Körper. Ich wollte schreien, aber eine grobe Hand bedeckte meinen Mund, reduzierte mich zu Wimmern.
Als sie mich endlich zurück auf meine Pritsche warfen, konnte ich mich nicht erinnern, wie ich überlebt hatte. Jeder Zentimeter meines Körpers schrie vor Schmerzen, meine Lippen waren aufgesprungen, meine Augen fast vollständig zugeschwollen.
Im Dunkeln weinte ich leise. Jemand, bitte rette mich. Irgendjemand.
Die fluoreszierenden Lichter der Gefängniskrankenstation summten über mir, während ich auf der schmalen Liege lag, mein Arm pochte dort, wo sie Blut abgenommen hatten. Acht hundert Milliliter - weit mehr als das sichere Limit. Aber wann hatte meine Sicherheit jemals eine Rolle für sie gespielt?
Es dauerte zwei Tage, bis ich ohne Schwindel aufstehen konnte. Am dritten Tag schleppte ich mich in den Gemeinschaftsraum, nur um in der Tür zu erstarren.
Der Fernseher zeigte Entertainment Tonight. „Wall Streets begehrtester Junggeselle beweist, dass Geld keine Rolle spielt, wenn es um Liebe geht“, schwärmte der Moderator. „Storm Investment Group CEO Ethan Storm hat keine Kosten gescheut für die Geburtstagsfeier seiner Jugendliebe Ivy Wilson, mit geschätzten Kosten von über 100 Millionen Dollar.“
Die Kamera schwenkte durch den prächtigen Ballsaal des Plaza Hotels. Und da waren sie. Ivy in ihrem Rollstuhl, sah ätherisch aus in Valentino Couture, ihre zarten Gesichtszüge arrangiert in einer perfekten Maske des sanften Leidens. Und Ethan... Ethan neben ihr, schnitt ihr Essen in mundgerechte Stücke mit einer Art von zärtlicher Aufmerksamkeit, die er mir nie gezeigt hatte.
„So süß“, fuhr der Moderator fort. „Quellen sagen, Mr. Storm habe Miss Wilson kaum verlassen, seit dem tragischen Unfall, der sie letztes Jahr gelähmt hat.“
Meine Großmutter wurde heute beerdigt. Ethan hatte versprochen, sich um die Arrangements zu kümmern, als ich ihn darum bat. Jetzt wusste ich, warum er so leicht zugestimmt hatte - er hatte nie vorgehabt, zu gehen.
Die Tränen kamen leise, rollten meine Wangen hinunter, als zehn Jahre Illusion endlich zerbrachen und zersplitterten.
Ich liebte Ethan Storm seit einem Jahrzehnt, beobachtete ihn. Er war der Kronprinz von Wall Street, während ich nur eine Medizinstudentin aus Boston war, die drei Jobs arbeitete, um die steigenden Arztrechnungen meiner Großmutter zu bezahlen.
Wir waren wie parallele Linien, die sich nie hätten treffen sollen. Dann kam der Unfall, der alles veränderte.
Ich erinnere mich noch an den Tag, der alles veränderte. Meine Großmutter brauchte eine experimentelle Krebsbehandlung, die nur das Storm Family Hospital bieten konnte. Die Matriarchin der Storm-Familie bot einen Deal an: Heirate ihren komatösen Enkel, und meine Großmutter würde kostenlose Behandlung erhalten. Ich stimmte ohne Zögern zu.
Einen Monat später erwachte Ethan wütend über unsere Ehe. Aber als Tests meine seltene Rh-null-Blutgruppe offenbarten, verwandelte sich seine Wut in berechnetes Interesse. Die Scheidung wurde nie wieder erwähnt - stattdessen wurde ich Ivys persönliche Blutspenderin.
Die schweren Eisengitter des Gefängnisses schlossen sich hinter mir. Ich war frei, endlich. Schwerer Regen prasselte gegen mein Gesicht, durchnässte die dünnen Kleider, die an meiner Haut klebten.
Ich stand dort, beobachtete Autos, die auf der glitzernden Straße vorbeirauschten und Wasserfontänen spritzten. Niemand war gekommen, um mich abzuholen - ich hatte es wirklich nicht erwartet. Drei Busumstiege später erreichte ich endlich unser Wohnhaus an der Central Park West, wo der Pförtner mich misstrauisch beäugte.
Ethan ging gerade hinaus, als ich die Tür öffnete, Aktentasche in der Hand, tippte schnell auf seinem Handy. Er blickte kaum auf.
„Du bist nass“, bemerkte er emotionslos.
Ich ergriff seinen Ärmel, das feine Wollgewebe glatt unter meinen Fingern. „Ethan“, meine Stimme war fest, trotz der Kälte, die in meine Knochen kroch. „Lass uns scheiden.“
Er sah mich dann an, Ärger flackerte über seine perfekten Gesichtszüge. „Nimm eine Dusche und klär deinen Kopf. Du denkst nicht klar.“
Das heiße Wasser des Bades tat nichts, um das Eis in meiner Brust zu erwärmen. Ich schaltete mein Handy zum ersten Mal in einem Jahr ein. Keine Nachrichten von ihm, natürlich.
Jedoch erschien eine Benachrichtigung über Ivys neuesten Instagram-Post: ein Selfie mit Ethan in dem, was ich als ihre private Krankenhaussuite erkannte. Er schälte einen Apfel, sein Ausdruck weich vor Konzentration. Die Bildunterschrift lautete: „Danke für die Gesellschaft.“
Ich sank tiefer ins Wasser, ließ es meine Ohren füllen, bis die Welt still wurde. Das Bild von Ethan, wie er zärtlich einen Apfel für Ivy schälte, brannte hinter meinen geschlossenen Augenlidern.
Zehn Jahre unerwiderter Liebe, und alles, was ich vorzuweisen hatte, war ein Gefängnisrekord und ein liebloser Ehemann. Verdammte Verspottung.
Das Wasser war kalt geworden, als ich herauskam. Ich studierte mein Spiegelbild im beschlagenen Spiegel, erkannte kaum die Frau, die zurückstarrte.
Schwere dunkle Augenringe hingen unter meinen hohlen braunen Augen, wie Blutergüsse gegen meine geisterhaft blasse Haut. Mein dunkles kastanienbraunes Haar war ein verfilztes Durcheinander, klammerte sich wie nasses Seegras an meinen Schädel.
Tränen liefen mein Gesicht hinunter, als ich heimlich beschloss, mich nie wieder mit ihnen einzulassen.
Mit zitternden Händen schnitt ich alle Verbindungen zu Ivys Welt ab. Als ich Ethans Kontakt erreichte, erstarrte mein Finger.
Genau in diesem Moment klingelte mein Handy - Ethan.








































































































































































































































































































