Kapitel 1 KAPITEL 001

Perspektive von Lauren

Ich wusste, dass der heutige Tag in einer Katastrophe enden würde, aber es von meiner Tochter zu hören, machte alles noch schlimmer.

„Mama, glaubst du, Papa hat es wieder vergessen?“

Diese Frage traf mich härter, als ich erwartet hatte. Ich blickte vom Spülbecken auf, wo ich gerade Elenas Müslischale ausgespült hatte. Ihre Stimme war leise, als ob sie die Antwort bereits kannte, aber etwas anderes hören wollte. Irgendetwas anderes.

Ich trocknete meine Hände am Geschirrtuch ab und ging ins Wohnzimmer. Da saß sie auf der Kante des Sofas in ihrem rosa Kleid, demselben, das sie sich vor zwei Wochen extra für heute ausgesucht hatte. Ihre Beine baumelten über dem Boden, ihre glänzenden schwarzen Schuhe tippten sanft gegen das Sofa.

„Nein, mein Schatz“, sagte ich und versuchte, meine Stimme ruhig zu halten. „Papa ist nur … ein bisschen spät dran, das ist alles. Er hat gesagt, er wäre vor fünf hier, erinnerst du dich?“

Sie blickte zur Wanduhr hinauf. Es war bereits viertel nach sechs.

„Das hat er letztes Jahr auch gesagt“, murmelte sie und ihr Blick wanderte zum Fenster. „Und er ist nie gekommen.“

Ich schluckte den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals bildete. Sie erinnerte sich. Ich brachte es nicht übers Herz, sie anzulügen, aber ich wollte auch nicht den letzten Funken Hoffnung zerstören, an den sie sich klammerte.

„Elena“, ich kniete mich neben sie und strich ihr eine lose Haarsträhne hinter das Ohr. „Ich weiß, er hat es letztes Jahr verpasst, aber er hat versprochen, es diesmal wiedergutzumachen. Vielleicht ist auf der Arbeit etwas dazwischengekommen. Erwachsenendinge können manchmal wirklich … kompliziert sein.“

Sie antwortete nicht. Sie starrte nur weiter aus dem Fenster, als würde sie darauf warten, dass ein Wunder in die Einfahrt einbiegt.

Ich stand auf und rieb meine Handflächen an meiner Jeans ab, um ruhig zu bleiben. Innerlich kochte ich. Nicht nur wegen heute, sondern wegen allem. Jeder verpasste Geburtstag. Jede vergessene Schulveranstaltung. Jede Nacht, in der Elena mich fragte, wo er sei, und ich so tun musste, als wüsste ich es.

Ich griff nach meinem Handy und wählte Ethans Nummer, aber er ging nicht ran.

Die Uhr schlug halb sieben und ich wusste bereits, dass Ethan spät nach Hause kommen würde. Elenas Gesicht war schon ganz blass und sie sah müde aus, weil sie so lange in genau derselben Position gesessen hatte. Es gab keinen Grund für sie, weiter auf ihren Vater zu warten, der sein Versprechen nicht halten konnte.

„Rosa“, rief ich.

Das Hausmädchen steckte ihren Kopf aus dem Flur.

„Ja, gnädige Frau.“

„Können Sie Elena bitte helfen, ihren Schlafanzug anzuziehen?“

Elenas Miene verfinsterte sich, aber sie wehrte sich nicht. Sie rutschte einfach vom Sofa und folgte Rosa leise nach oben, wobei sie mit den Füßen schlurfte.

Ich setzte mich hin und starrte auf den leeren Türrahmen. Die Stille im Haus fühlte sich schwerer an als sonst. Ich nahm mein Handy und schaute erneut auf die Uhr. 18:47 Uhr. Immer noch keine Nachricht. Kein Anruf. Nichts.

Ich schickte ihm eine kurze Nachricht: „Ethan, wo bist du? Elena hat den ganzen Tag gewartet. Du hast es versprochen.“

Immer noch keine Antwort.

Die Stunden vergingen quälend langsam. Ich saß auf der Couch und scrollte durch die immer gleichen alten Fotos auf meinem Handy, die, auf denen wir tatsächlich wie eine Familie aussahen. Damals, als Ethan noch wirklich lächelte. Damals, als er noch früh nach Hause kam. Damals, als er mich ansah, als wäre ich mehr als nur … ein Hintergrundgeräusch.

Um 20:20 Uhr kam Rosa wieder die Treppe herunter.

„Sie schläft, gnädige Frau. Ihr Glas Milch hat sie nicht angerührt.“

Ich nickte. „Danke, Rosa. Du kannst dich jetzt ausruhen.“

Langsam stieg ich die Treppe hinauf und spähte in Elenas Zimmer. Sie lag zusammengekauert im Bett, immer noch in ihrem Kleid. Ich war mir sicher, dass sie sich geweigert hatte, es auszuziehen. Ihre Arme umschlangen den alten Teddybären, den Ethan ihr als Baby geschenkt hatte – eines der wenigen Dinge, bei denen er tatsächlich aufgetaucht war.

Ich trat näher und zog ihr sanft die Decke über. Sie rührte sich nicht einmal.

„Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz“, flüsterte ich und küsste ihre Stirn. „Es tut mir so leid.“

Wieder unten, wartete ich. Die Uhr tickte an 9 vorbei, dann an 10, dann an 11. Ich merkte gar nicht, wie spät es war, bis die Ziffern auf 12:00 Uhr umsprangen.

Ich hätte das Klicken der Haustür beinahe überhört.

Ich schoss hoch, mein Herz raste. Er war es.

Ethan trat ein, als wäre nichts geschehen. Den Mantel in der einen Hand, das Handy in der anderen. Er schien nicht einmal überrascht zu sein, mich noch wach zu sehen.

„Wo zum Teufel warst du?“, fragte ich, meine Stimme hoch, aber zitternd. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal meine Stimme gegen ihn erhoben habe, aber in diesem Moment war es mir egal, wie schrill ich klang.

Er blinzelte. „Ich hab dir doch gesagt, dass in der Firma in letzter Zeit viel los ist.“

„Hör auf.“ Ich hob die Hand. „Wag es nicht, das noch einmal zu sagen.“

Er seufzte, als wäre ich diejenige, die unvernünftig war. „Lauren, ich hatte einen langen Tag, okay? Ich bin müde und habe wirklich keine Lust, das jetzt durchzukauen.“

„Nein. Du kommst hier nicht einfach herein und tust so, als wäre nichts passiert. Deine Tochter saß den ganzen Abend schick angezogen im Wohnzimmer und hat auf dich gewartet. Sie hat ständig auf die Uhr gestarrt, als würdest du jeden Moment mit Luftballons und Umarmungen durch die Tür platzen. Und du bist nie gekommen.“

Etwas zuckte über sein Gesicht – vielleicht Schuld, vielleicht auch nur Unbehagen. Aber ich sah es. Ich kannte diesen Blick. Er hatte es vergessen. Schon wieder. Genau wie letztes Jahr.

„Sie hat dir die letzten zwei Wochen jeden Morgen gesagt, dass heute ihr Geburtstag ist. Sie hat die Tage auf dem Kühlschrankkalender abgestrichen. Sie hat über nichts anderes mehr geredet.“

„Ich war beschäftigt, Lauren.“

„Beschäftigt womit? So beschäftigt, dass du meine Anrufe nicht annehmen oder auf meine Nachrichten antworten konntest? Du führst dein eigenes Unternehmen, Ethan. Du bestimmst deinen Zeitplan. Du hättest dir Zeit nehmen können, wenn du gewollt hättest. Einen Tag. Einen einzigen verdammten Tag für deine Tochter.“

Er wandte den Blick ab, sein Kiefer spannte sich an. „Ich mache da nicht mit.“

Er drehte sich um, um an mir vorbeizugehen, aber ich streckte die Hand aus, packte seinen Arm und er wirbelte herum. Ein schwacher Duft von etwas Süßem und Unbekanntem lag in der Luft – nicht sein Parfüm und definitiv nicht meins. Und da sah ich es.

Ein blasser, rosafarbener Lippenstiftfleck am Kragen seines weißen Hemdes.

Lippenstift.

Ich starrte darauf. Für einen Moment verdunkelte sich die Welt um mich herum, die Stille dröhnte in meinen Ohren.

„Wer ist sie?“, fragte ich, kaum lauter als ein Flüstern.

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