3. Zweite Chance
|| Lilacs Perspektive ||
Der große Saal war ein Wirbel aus Farben und Geräuschen – Lachen, Musik und Applaus hallten von den Marmorböden wider. Goldene Kronleuchter warfen ein warmes Licht auf alles und ließen die Samtbanner mit dem Wappen unseres Rudels schimmern. Einheit. Stärke. Worte, die mir jetzt nichts mehr bedeuteten.
Mein Kopf schwirrte. Einen Moment zuvor war ich noch auf dem Boden des Thronsaals gewesen, ein Dolch an meinem Bauch, mein Herz in Stücke gerissen. Im nächsten Moment war ich hier – zurück bei diesem verfluchten Fest, der Nacht, die meinen Untergang eingeläutet hatte.
Dann legten sich Arme um mich. Warm. Vertraut. Lavendel und Honig.
Mein Atem stockte.
Mama.
Ihre Umarmung war sanft, ihre Stimme voller Liebe. „Glückwunsch, mein Liebling.“
Dieses Wort – Liebling – traf mich wie ein Messer in die Brust. Ich zog mich gerade weit genug zurück, um ihr Gesicht zu sehen, meine Finger zitterten, als sie ihre Wange berührten. Echt. Lebendig. Lachfalten umrahmten ihre Augen, ihr Lächeln strahlte, ihre goldgesprenkelten Iriden wie Sonnenlicht durch Blätter.
Aber – wie? Ich hatte sie sterben sehen. Gesehen, wie Cocos Klinge sie mir genommen hatte.
Und doch stand sie hier. Unversehrt. Oder waren wir beide tot? War dies das Jenseits?
Der Applaus um mich herum schwoll an, eine tosende Welle der Zustimmung. Ich drehte mich um, mein Puls raste, und sah ihn – meinen Vater. Groß, stolz, sein silbergesträhntes Haar fing das Licht ein. Er nickte mir zu, ein Nicken, das mich früher immer sicher fühlen ließ.
Beide. Lebendig. Das konnte nicht die Wahrheit sein.
Meine Lungen brannten. War das Wahnsinn? Ein Trick meines sterbenden Geistes?
Ich schaute an mir herunter – das schimmernde Kleid, dasselbe, das ich in jener Nacht getragen hatte. Der Nacht, in der Luna Königin Cassandra mich zu Kaels Gefährtin ernannt hatte.
Eine Erinnerung? Die wahrscheinlich schrecklichste! Ich kniff mich und ein Keuchen entfuhr mir, als ich den Schmerz spürte.
Nein.
Das war nicht nur irgendeine Erinnerung. Das war... REAL! Irgendwie war ich in die Zeit zurückgereist.
Damals war ich naiv gewesen. Ich hatte Kael geliebt, solange ich mich erinnern konnte – bevor ich überhaupt meinen Wolf hatte, bevor ich wirklich wusste, was Liebe war. Ich hatte geglaubt, seine Gefährtin zu sein, sei eine Ehre. Dass wir zusammen regieren würden, dass er mich schätzen würde.
Ich war eine Närrin gewesen.
Kaels Charme hatte die Wahrheit verborgen – die Kälte in ihm, die Grausamkeit. Und ich war darauf hereingefallen, bis zu dem Moment, als er mich verriet.
Aber jetzt?
Die Erkenntnis traf mich wie eine Welle – das war real. Eine zweite Chance.
Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich würde nicht dieselben Fehler machen. Ich würde ihm nicht vertrauen. Ich würde nicht zulassen, dass Coco alles zerstört, was ich liebte.
„Lilac, meine Liebe, bitte tritt vor.“
Die Stimme von Luna Königin Cassandra durchbrach das Geräusch. Sie stand auf der Bühne, wie immer majestätisch.
Und neben ihr – Kael Reventhorn.
Goldäugig, perfekt, der zukünftige Alpha-König. Die Menge vergötterte ihn. Aber jetzt sah ich die Wahrheit – die Leere hinter seinem Lächeln.
Die Königin streckte ihre Hand aus. „Heute nimmst du deinen Platz als zukünftige Luna der Reventhorns ein.“
Jubel brach aus.
Ich traf Kaels Blick. Einst hätte dieser Blick mein Herz schneller schlagen lassen. Jetzt?
Nichts.
Nur Eis. Nur Entschlossenheit.
„Verzeiht, meine Königin,“ durchbrach die Stimme meiner Mutter die Stille, sanft und entschuldigend. Ich drehte mich um und sah, wie sie sich leicht verbeugte, die Hände vor sich gefaltet.
„Sie ist ein wenig überwältigt, scheint es.“ Ihr Lächeln war angespannt, ihre Augen huschten mit einer Mischung aus Stolz und Sorge zu mir. Ich wollte ihr die Wahrheit sagen, ihr erklären, dass dies nicht überwältigend war, sondern ein tiefes, brodelndes Widerstreben unter der Oberfläche. Aber ich konnte nicht. Nicht hier. Nicht jetzt.
„Es ist tatsächlich normal“, antwortete Luna Cassandra, ihre Stimme glatt und beruhigend.
„Lilac ist erst achtzehn, und wir legen eine große Verantwortung auf ihre Schultern.“ Ihre Worte waren freundlich, aber sie linderten kaum das Chaos in mir.
In meinem früheren Leben war diese Frau eine Säule der Stärke gewesen, eine Figur, die ich bewundert und respektiert hatte. Aber jetzt kannte ich die Wahrheit. Sie hatte alles für ihren Sohn Kael getan, selbst als es bedeutete, sich auf seine Seite zu stellen, als er Coco in unser Leben brachte. Sie hatte es als normal bezeichnet, als notwendigen Teil des Lebens eines Alphas. „Mein Sohn ist ein Alpha und er braucht seine Gefährtin, um seine geistige Gesundheit zu bewahren“, hatte sie gesagt, ihre Stimme sanft, aber bestimmt. „Und da sie seine Seelenverwandte ist, wird ihr Kind eine stärkere Bindung haben.“ Ihre Worte hatten mich tiefer getroffen als jede Klinge, ein Verrat, von dem ich mich nie ganz erholt hatte.
„Mach weiter, Liebes“, flüsterte meine Mutter und drückte sanft meinen Arm.
„Aber… wir sind keine Seelenverwandten“, brachte ich schließlich hervor, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Die Worte hingen in der Luft, ein zerbrechlicher Faden des Widerstands, der den gesamten Raum zu ersticken schien. Ich konnte fühlen, wie die Spannung stieg, die Unruhe der Menge war greifbar. In meinem früheren Leben hatte ich diese Vereinbarung ohne Frage akzeptiert, zu naiv, um die Risse im Fundament zu sehen. Aber jetzt konnte ich es nicht unangefochten lassen.
Luna Cassandras Lächeln wankte nicht, aber in ihren Augen flackerte etwas, Überraschung vielleicht oder sogar ein Hauch von Verärgerung.
„Ich weiß“, sagte sie, ihr Ton immer noch warm, aber mit einem Hauch von Endgültigkeit.
„Aber Kael ist dreiundzwanzig und du bist achtzehn. Keiner von euch hat bisher seine Gefährten gefunden. Vor allem ist es selten, Gefährten zu finden, also müssen wir uns auf die Auserwählten verlassen.“ Ihre Worte waren logisch, praktisch, aber sie beruhigten den Sturm in mir nicht.
„Was, wenn einer von uns seinen Gefährten findet?“ fragte ich, meine Stimme zitternd, aber fest. Die Menge verstummte, das Gewicht meiner Frage legte sich wie ein schwerer Nebel über sie.
Bevor Luna Cassandra antworten konnte, trat Kael vor, seine Präsenz gebieterisch und unbestreitbar. Seine goldenen Augen fixierten meine, erfüllt von einer Wärme, die so echt wirkte, dass mir der Magen umdrehte.
„Ich werde dich immer noch lieben und schätzen“, sagte er, seine Stimme stark und unerschütterlich. Sie hallte durch den Saal, ein Gelöbnis, das nicht nur mich, sondern die gesamte Menge beruhigen sollte. „Nur du wirst meine Luna sein. Ich schwöre der Mondgöttin, dass du die Einzige für mich sein wirst.“
Seine Worte waren schön, poetisch sogar, aber sie klangen hohl in meinen Ohren. Ich wusste, dass dies eine Aufführung war, eine sorgfältig inszenierte Show, um die Gunst der Adligen zu gewinnen und seinen Platz als zukünftiger Alpha-König zu sichern.
„Ich werde dich immer schätzen“, sagte er, seine Stimme sanft, aber mit dem Gewicht eines Versprechens. „Von heute an wirst du meine kostbare Prinzessin sein.“
Die Menge brach in Applaus aus, ihre Jubelrufe und Pfiffe erfüllten die Luft. Aber für mich fühlte es sich an wie ein Trauermarsch, der Klang meiner Freiheit, die unter der Last von Pflicht und Erwartung begraben wurde.
