4.Ein Funke im Schatten
|| Lilacs Perspektive ||
„Darf ich?“, fragte Kael und streckte seine Hand aus. Ich zwang mich zu einem Lächeln.
Die Menge jubelte, als Kael mich auf die Tanzfläche führte. Sein Griff um meine Hand war fest, als gehöre ich ihm bereits. Die Musik war sanft, aber ich fühlte nichts als Wut.
Ich hasste das. Ich hasste sein falsches Lächeln, seine Hand an meiner Taille, seine vorgetäuschte Liebe. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde ich mich selbst verraten.
Wie bin ich wieder hier gelandet? Ich hatte eine zweite Chance, Dinge zu ändern, aber hier war ich, tanzend mit dem Mann, der mich zerstört hat. Erinnerungen an mein früheres Leben kamen zurück – Kaels Verrat, seine kalten Worte, als er mich zum Sterben zurückließ.
„Du tanzt gut“, flüsterte Kael, sein Atem heiß an meinem Ohr. Ich schauderte vor Ekel.
„Übung macht den Meister“, sagte ich und hielt meine Stimme ruhig. In meinem früheren Leben hatte ich gelernt, vorzugeben, seine Gesellschaft zu genießen.
Die Musik zog sich hin, jede Note eine Erinnerung an das, was ich verloren hatte. Als sie endete, ging ich weg und ließ den Jubel hinter mir.
In meinem früheren Leben war ich naiv gewesen. Diese Version von mir starb verraten und gebrochen. Dieses Mal würde ich stärker sein. Aber wie konnte ich, eine Beta ohne Macht, gegen den zukünftigen Alpha-König bestehen?
Ich wanderte in den Garten, weg von allen Blicken. Mein Geist raste. Hier war es friedlicher als im Saal. Erschöpft stolperte ich, aber jemand fing mich auf. Der Duft von Kiefern erfüllte die Luft. Ich blickte auf und mein Atem stockte, als meine Augen auf seine trafen. Ein Paar durchdringender grauer Augen, wie heraufziehende Sturmwolken, erfüllt von einer stillen Intensität, die mein Herz einen Schlag aussetzen ließ. Sein Gesicht war scharf, seine Züge mit einer rauen Attraktivität gemeißelt, die sowohl einschüchternd als auch fesselnd war. Das war Alaric. Das vergessene Stück dieses Königreichs.
Ich hatte die Gerüchte natürlich gehört. Jeder hatte das. Sie flüsterten durch die Hallen wie ein gespenstisches Echo, das mit jedem Erzählen dunkler wurde.
Alarics Mutter war die erste Gefährtin von Alpha-König Darius gewesen. Sie war vom Rudel geliebt, eine Luna, die Hingabe und Ehrfurcht inspirierte. Doch ihr Leben war durch eine Tragödie verkürzt worden, über die niemand offen zu sprechen wagte. Einige sagten, eine Krankheit habe sie dahingerafft, andere glaubten, Verrat sei im Spiel gewesen, obwohl niemand öffentlich Anschuldigungen erhob.
Ihr Tod hinterließ eine Leere im Schloss, die Darius fast zu schnell füllte. Cassandra, die Frau, die die neue Luna werden würde, trat ohne Zögern in die Rolle, ihre zarten Hände umklammerten die Krone, die einst einer anderen gehörte. Und so wurde Alaric beiseitegeschoben, seine Präsenz verblasste in den Schatten, während Kael unter Cassandras Herrschaft aufblühte.
Sie nannten ihn nie einen Prinzen. Er war der erstgeborene Sohn des Alpha-Königs, doch sein Name wurde nie mit Ehrfurcht oder Bewunderung ausgesprochen. Stattdessen wurde er in gedämpften, ängstlichen Tönen geflüstert, eine warnende Geschichte für diejenigen, die es wagten, die natürliche Ordnung in Frage zu stellen.
„Seine Seele ist verflucht“, sagten sie.
„Seine Gefährtin wird sterben, bevor sie die Chance hat, ihn zu lieben.“
Er war nichts wie Kael, kein goldenes Kind, kein aufsteigender Alpha. Wo Kael Feuer war, hell brennend und blendend in seiner Brillanz, war Alaric Eis. Eine kalte, schleichende Kraft, die durch die Ritzen der Schlossmauern kroch, lauernd an Orten, die niemand zu betreten wagte.
„Bleib weg vom erstgeborenen Sohn des Königs“, hatten die Schlossmädchen im Flüsterton gewarnt, ihre Hände krampfhaft an ihren Schürzen haltend, als wollten sie eine unsichtbare Kraft abwehren.
„Seine Berührung bringt nur den Tod.“
Und doch, als ich dort stand und seine Hände immer noch meine Arme umfassten, verspürte ich keine Angst. Nur eine seltsame, elektrische Wärme, die sich durch mich ausbreitete und etwas tief in meiner Brust entfachte. Seine Berührung war fest, aber sanft, seine Präsenz sowohl beruhigend als auch aufregend. Ich konnte meinen Blick nicht von seinen Augen abwenden, diesen stürmischen grauen Augen, die direkt durch mich hindurchzusehen schienen, vorbei an der Fassade, die ich aufgebaut hatte, vorbei an dem Schmerz und der Wut, bis zum Kern dessen, wer ich war.
Ein Funke lief über meine Haut, wo er mich berührte, eine so intensive Empfindung, dass mir der Atem stockte. Ich hatte noch nie so etwas gefühlt, weder bei Kael noch bei jemand anderem. Es war, als hätte sich die Welt verschoben, als hätte sich die Luft um uns herum verändert. Was war das für ein Gefühl? Diese seltsame, überwältigende Verbindung, die mich zu ihm hinzog, als hätte eine unsichtbare Kraft uns zusammengebunden?
Einen Moment lang bewegte sich keiner von uns. Der Garten war still, die Welt um uns herum verblasste, bis nur noch wir beide im Mondlicht standen. Mein Herz raste, mein Verstand kämpfte darum, Sinn in das zu bringen, was ich fühlte. Aber eines war klar: Das hier war anders. Das hier war echt.
Und es machte mir Angst.
Der Garten war friedlich. Oder wäre es gewesen – wenn nicht die Stimme die Nacht durchbrochen hätte.
„Ich frage mich, was meine Schwägerin hier draußen ganz allein macht.“
Ich erstarrte. Mein Puls beschleunigte sich, aber ich drehte mich langsam um. Alaric lehnte an einem Baum, halb im Schatten, und grinste, als würde ihm der Ort gehören. Sein Griff war immer noch da, als er mich ein Stück näher zog. Das Mondlicht fing sich in seinen grauen Augen, scharf und unergründlich.
Ich zog meine Hände aus seinem Griff, hasste das Kribbeln auf meiner Haut. „Ich bin nicht deine Schwägerin.“
Er lachte. „Nein?“
Er trat näher. Ich bewegte mich nicht. Er war viel zu groß, zu nah, zu verdammt selbstgefällig.
„Ich könnte schwören, ich habe dich heute Abend in den Armen meines Bruders gesehen, tanzend vor Freude“, sagte er leicht, aber da war etwas anderes darunter.
„Ich hatte keine Wahl“, sagte ich. „Königin Cassandra hat das für mich entschieden.“
Er neigte den Kopf. „Also bist du nur ein Opfer? Kein Kampfgeist mehr in dir? Arme, hilflose Lilac.“
Wut flammte heiß auf. „Ich bin nicht hilflos.“
Sein Grinsen wurde breiter. „Natürlich nicht.“ Seine Stimme wurde leiser, fast amüsiert.
Ich trat zurück, meine Schultern stießen gegen die raue Rinde eines Baumes. Er bewegte sich näher, füllte den Raum zwischen uns, brachte den Duft von Kiefer und Leder mit sich.
„Bereust du deine Entscheidung schon?“ Sein Atem war warm an meiner Wange.
Ich zwang meine Stimme ruhig zu bleiben. „Ich bereue nichts.“
Seine Augen flackerten. „Lügnerin.“
Er hob die Hand und strich eine verirrte Haarsträhne aus meinem Gesicht. Mein Atem stockte. Zu nah. Mein Blick fiel auf seine vollen Lippen und plötzlich wollte ich nichts anderes, als ihn zu küssen, meine Hände in sein weiches dunkles Haar zu vergraben.
„Worüber denkst du so tief nach, Schwägerin?“ sagte er und ich sah ein gefährliches Lächeln auf seinen Lippen.
Fokus, Lilac! Er war einer der Reventhorns. HALTE DICH VON IHNEN FERN UND DU KÖNNTEST LÄNGER LEBEN! schrie ich in meinem Kopf.
„Das geht dich nichts an“, antwortete ich.
Ich duckte mich unter seinem Arm hindurch und schaffte Abstand zwischen uns, meine Schritte schnell. Ich konnte seinen Blick auf meinem Rücken spüren, aber ich drehte mich nicht um.
Der Weg erstreckte sich vor mir, im silbernen Licht gebadet. Ich musste nachdenken. Aus diesem Schlamassel herauskommen. Es musste einen Weg geben.
Aber zuerst musste ich mich mit dieser Verlobung auseinandersetzen.
Und ich hatte das Gefühl, dass das nicht einfach sein würde.
