Kapitel 2 Verborgene Wahrheiten

Jonas

Ich erinnere mich nicht an die Heimfahrt. Das ist das, was mir am meisten Angst macht.

Ich schließe die Tür hinter mir ab und werfe meine Schlüssel auf die Theke, aber sie verfehlen ihr Ziel und klirren auf den Boden. Scheiß drauf, es ist egal. Die Wohnung ist sowieso zu sauber. Ich hatte in letzter Zeit nicht die Energie, irgendetwas durcheinander zu bringen. Keine schmutzigen Teller im Spülbecken. Keine Wäsche auf dem Boden.

Nur Stille und sie.

Nicht wirklich, aber ihr Duft ist noch hier. Nicht so stark wie im Büro, aber er ist in meinem Hoodie. Auf der Decke, die ich seit Wochen nicht gewaschen habe. Die Art, wie er haftet, lässt mich fühlen, als hätte ich ihr Büro nie wirklich verlassen. Es fühlt sich an, als würde ich seit der letzten Sitzung schlafwandeln.

Ich ziehe den Hoodie aus und vergrabe mein Gesicht im Ärmel. Ich weiß, dass es nicht gesund ist. Aber ich will einfach wieder etwas fühlen, VERDAMMT nochmal irgendetwas. Dieses elektrische Kribbeln, das ich spürte, wenn sie den Raum betrat. Diese Hitze in meiner Brust, wenn sie meinen Namen sagte, als gehöre er ihr.

Adrienne. Ihr Name schmeckt teuer in meinem Mund. Wie ein Sieben-Gänge-Menü im French Laundry in Napa Valley, das ich mir nicht leisten kann.

Ich habe mich nicht in sie verliebt. Nicht genau. Es war davor. Bevor mein Gehirn benennen konnte, was es war. Ich fühlte mich gesehen. Als wäre ich nicht nur eine weitere Nummer auf einem Klemmbrett, so hatte ich mich noch nie gefühlt. Nicht von einer Frau.

Das erste Mal, als ich sie traf, sollte eigentlich nicht einprägsam sein.

Aber es war es.

Es war ein Mittwoch. Ich erinnere mich daran, weil ich an diesem Morgen meinen einzigen Anzug aus der Reinigung abgeholt habe.

Das Gebäude sah aus wie jedes andere klinische Forschungszentrum, mit mattierten Fenstern, gebürsteten Stahl-Türklinken und generischen Kunstpflanzen, die den Flur wie höfliche Lügen säumten. Ich sagte mir immer wieder, dass es für die Wissenschaft sei, nicht für die Therapie. Nur Duftreaktionstests. Zehn Sitzungen, eine Flasche, kleine Aufwandsentschädigung. Ich brauchte das Geld. Das war alles.

Ich unterschrieb das Einverständnisformular und wartete allein.

Dann kam sie herein.

Das erste, was ich sah, waren ihre Beine. Lang. Präzise. Sie bewegte sich, als wäre ihr Körper in Geometrie geschult, jeder Winkel scharf, überlegt und zusammengesetzt. Ihr Rock umschmeichelte ihre Hüften, als wäre er maßgeschneidert, um Männer dumm zu machen, und es funktionierte. Ihre Bluse war knackig und weiß, gerade hoch genug geknöpft, um die Dinge klinisch zu halten, aber eng genug, um deinen Mund vergessen zu lassen, was du sagen wolltest. Ihr Haar war hochgesteckt und so sauber festgesteckt, dass es nicht echt schien. Wie eine Skulptur, nicht wie ein Spiegel. Und ihr Gesicht… Heilige Scheiße. Dieses Gesicht war nicht weich. Es war gebaut, Wangenknochen, die schneiden sollten, Lippen, die bestrafen sollten. Augen wie hochkarätige Waffen: kalt, fixiert und gefährlich, wenn man zu lange starrte.

Sie war nicht darauf aus, zu verführen. Sie musste es nicht.

Sie war darauf aus, den Raum zu beherrschen. Und das tat sie.

Und dann sah sie mich an.

Nur für eine Sekunde. Aber etwas in mir ließ mich vergessen, wo ich war. Wofür war ich hier? Nur dieser eine Blick, als würde sie mich messen, ob ich nützlich oder vergessen werde.

„Jonas Calver?“ fragte sie, als ob sie es bereits wüsste.

„Ja.“ Ich stand zu schnell auf und stieß mein Knie gegen den Stuhl. „Ja. Entschuldigung.“

Sie nickte leicht. „Du bist in Gruppe Zwei. Folge mir bitte.“

Ihre Stimme war leise, gefasst, ohne Weichheit, aber auch nicht hart. Einfach die Art von Stimme, der man gehorcht, ohne zu wissen warum. Ich folgte ihr den Flur entlang, meine Augen halb auf ihren Rücken, halb auf den Duft gerichtet, der hinter ihr herwehte. Es war, als könnte ich ihn sehen, wie er von ihr ausströmte. Er war schwach, aber sauber, kühl und scharf wie die Luft vor einem Gewitter. Nicht verführerisch. Nicht süß. Einfach da, auf eine Weise, die ich nicht erklären konnte.

Sie führte mich in einen weißen, fensterlosen Raum. Kein Schreibtisch. Kein Spiegel. Nur zwei Stühle, einander gegenüber. Die Art von Aufstellung, bei der man vergisst, wohin mit den Händen.

Sie setzte sich mir gegenüber, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände gefaltet. „Ich bin Dr. Adrienne Volke. Danke, dass Sie sich freiwillig gemeldet haben. Ihr Profil ist aufgefallen.“

Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. „Oh. Äh, ich habe nur den Fragebogen ausgefüllt.“

Ihr Blick wankte nicht. „Ihre chemischen Marker zeigen eine hohe olfaktorische Empfindlichkeit. Das ist selten. Sehr reaktionsfreudig.“

Ich war mir nicht sicher, ob das ein Kompliment oder eine Warnung war.

Sie griff in eine kleine Schublade neben ihrem Stuhl und zog eine matte schwarze Flasche heraus—kein Etikett, kein Logo. Einfach schlank und klinisch.

„Wir beginnen mit einer Basisverbindung. Tragen Sie sie täglich. Protokollieren Sie Ihre emotionalen Reaktionen, die Klarheit Ihrer Erinnerungen, die Dauer Ihrer Konzentration, gesteigerte Empfindungen und sexuelle Wünsche. Fragen?“

So viele. Aber ich schüttelte den Kopf.

Sie reichte mir die Flasche. Unsere Finger berührten sich nicht, aber es fühlte sich an, als hätten sie es.

Ich verließ das Gebäude mit mehr als nur einer Flasche. Da war ein Druck in meiner Brust, den ich noch nicht benennen konnte. Einfach das Gewicht, von jemandem bemerkt zu werden, der nicht hinschauen musste, es aber tat.

Ich liebte sie nicht. Nicht damals.

Aber ich wollte, dass sie mich wieder so ansah.

Und ich denke, sie wusste es.

Ich wache auf und liege auf meiner Couch, halte immer noch den Hoodie fest, als wäre er der Beweis für etwas. Meine Knöchel sind weiß um den Stoff. Meine Brust ist eng. Jedes Mal, wenn ich nach einem Traum von ihr aufwachte, fühlte sich das Atmen wie Arbeit an. Das war immer so.

Ich lasse den Hoodie fallen und lehne mich zurück, zwinge meine Hände, sich zu öffnen. Mir wird klar, wie sehr meine Hände schmerzen.

Ich spiele es immer wieder ab, dieses erste Treffen. Ihre Stimme, die Art, wie sie sich bewegte, wie sie mich direkt ansah, als wäre ich nicht nur ein Teilnehmer, sondern ein Rätsel, das sie bereits lösen konnte. Ich sagte mir, es sei die Formel; es ist eine Frage der Wissenschaft. Das sagten sie. Dafür war die Forschung da.

Aber selbst jetzt, Wochen später, bin ich mir immer noch nicht sicher, was das war. Worauf habe ich reagiert? Auf die Verbindung? Oder auf sie?

Sie flirtete nicht. Sie berührte mich nicht. Aber ich ging trotzdem hinaus und fühlte mich besessen, und ich wollte, dass sie mich besitzt. Und das hat sich nicht geändert. Nicht einmal ein bisschen.

Ich kann mich ohne diesen Duft nicht konzentrieren. Ich kann nicht schlafen. Ich fühle mich nicht normal in meiner Haut. Manchmal versuche ich, es laut zu erklären, aber die Worte klingen erbärmlich. „Ich glaube, die Therapie hat zu gut funktioniert“ kommt nicht gut an, wenn die Leute nicht wissen, was sie ist.

Was sie mit mir gemacht hat, war keine Liebe. Es war nicht einmal eine Anziehung.

Was zur Hölle? Dr. Adrienne Volke, Sie leben mietfrei in meinem Kopf.

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