Kapitel 3: Geheimnisse im Dunkeln

Der Klang des Telefons zerriss die Stille des frühen Morgens wie ein Schrei. Isabella öffnete die Augen, desorientiert, und suchte nach der Quelle des Geräusches. Sie war erschöpft nach einem emotional intensiven Tag und hatte gerade erst geschafft, einzuschlafen. Der eindringliche Ton riss sie aus ihrer Lethargie, und mit unbeholfenen Bewegungen griff sie nach ihrem Telefon auf dem Nachttisch.

„Hallo?“ murmelte sie, ihre Stimme heiser vom Schlaf.

„Isabella, ich bin's, Alexander“, sagte eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Sein Ton war kalt, kälter als sonst, und sie spürte ein wachsendes Unbehagen in ihrer Brust. „Ich brauche dich im Büro. Sofort.“

Isabellas Herz begann zu rasen. Es war nicht normal, dass Alexander sie zu dieser Stunde anrief. Der Ton seiner Stimme machte deutlich, dass etwas Ernstes passiert war. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, zog sie sich schnell an und verließ ihr Zimmer. Der lange Flur war dunkel, nur schwach beleuchtet vom fahlen Mondlicht, das durch die Fenster drang. Mit jedem Schritt, den sie machte, hallte das Geräusch ihrer Schuhe in ihren Ohren wider und verstärkte das Gefühl von Leere und Angst, das sie begleitete.

Als sie das Büro erreichte, war Alexander bereits dort und sah ernst aus. Seine Gestalt war als langer Schatten an der Wand zu sehen, und seine Augen, normalerweise berechnend, schienen nun einen inneren Sturm zu enthalten, der jeden Moment ausbrechen könnte.

„Was ist los?“ fragte Isabella, spürte die Spannung im Raum fast greifbar.

Alexander antwortete nicht sofort. Er ging zum Schreibtisch und schaltete eine kleine Lampe an, die einige verstreute Papiere auf dem Tisch beleuchtete. Isabella konnte nicht klar erkennen, was es war, aber etwas in Alexanders Ausdruck warnte sie, dass dies keine einfache Unterhaltung war.

„Ich brauche deine Ehrlichkeit, Isabella“, sagte er schließlich, seine Stimme kontrolliert, aber gefährlich. „Wer bist du wirklich?“

Isabella blinzelte, verblüfft. Sie verstand die Frage nicht.

„Was meinst du, wer ich bin? Ich bin deine Nanny… ich kümmere mich um Ethan, ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

Alexander beobachtete sie genau, seine Augen studierten sie, suchten nach etwas in ihrem Ausdruck. Schließlich nahm er eines der Papiere vom Schreibtisch und hielt es ihr vor. Isabella, verwirrt, nahm es mit zitternden Händen. Als sie den Inhalt ansah, fühlte es sich an, als würde der Boden unter ihren Füßen verschwinden.

Es war ein Foto. Ein altes Foto einer jungen Frau, schwanger, in einer scheinbar klinischen Umgebung. Aber es war nicht irgendeine Frau... es war sie. Oder zumindest jemand, der ihr identisch war. Das gleiche Gesicht, das gleiche Haar, sogar der gleiche Ausdruck von Unsicherheit.

„Woher hast du das?“ fragte sie, ihre Stimme brach.

„Das will ich wissen“, antwortete Alexander und trat mit festem Schritt auf sie zu. „Du bist nicht zufällig hier aufgetaucht, Isabella. Ich muss wissen, was du versteckst.“

Isabella trat einen Schritt zurück, überwältigt von Emotionen. Sie konnte nicht verstehen, wie dieses Foto existierte. Sie war nie schwanger gewesen... oder doch? Ihr Geist füllte sich mit Zweifeln und verschwommenen Erinnerungen, die sie in keinen klaren Kontext einordnen konnte. Sie fühlte, dass etwas in ihr falsch war, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen.

„Ich weiß es nicht, Alexander“, antwortete sie schließlich, Tränen begannen in ihren Augen aufzusteigen. „Ich weiß nicht, was passiert.“

Bevor Alexander etwas sagen konnte, hallte ein markerschütternder Schrei den Flur entlang. Beide drehten sich gleichzeitig um und erkannten sofort die Stimme.

„Ethan!“ schrie Isabella und rannte aus dem Büro, bevor Alexander sie aufhalten konnte.

Sie rannte den Flur entlang, als hinge ihr Leben davon ab, Ethans Schrei hallte noch in ihren Ohren. Als sie sein Zimmer erreichte, fand sie den Jungen im Bett sitzend, schweißgebadet und unkontrollierbar zitternd. Seine Augen waren weit aufgerissen, als hätte er etwas Schreckliches gesehen.

„Ethan, Liebling, ich bin hier“, flüsterte Isabella und näherte sich ihm langsam. „Alles ist in Ordnung, es war nur ein Albtraum.“

Der Junge sah sie nicht an; seine Augen waren auf das Fenster gerichtet, als würde er erwarten, dass etwas oder jemand dort auftaucht. Isabella umarmte ihn fest, spürte, wie sein kleiner Körper sich an sie klammerte, als wäre sie sein einziger Zufluchtsort.

„Geh nicht weg“, flüsterte Ethan kaum hörbar. „Bitte, geh nicht weg wie sie.“

Die Worte des Jungen trafen sie wie ein Schlag. Sie wusste, dass er von seiner Mutter sprach, jener abwesenden Gestalt, die nie direkt erwähnt wurde, deren Geist jedoch alle in diesem Haus zu verfolgen schien.

„Ich gehe nirgendwo hin, das verspreche ich“, sagte sie sanft und streichelte sein Haar.

Ethan zitterte jedoch weiterhin. In diesem Moment spürte Isabella eine Präsenz an der Tür. Als sie den Kopf drehte, sah sie Alexander dort stehen, der sie schweigend beobachtete. Ihre Blicke trafen sich, und für einen Moment glaubte Isabella, etwas anderes in seinem Ausdruck zu sehen, etwas jenseits seiner üblichen Kälte. Er schien... besorgt.

„Er hat manchmal solche Episoden“, murmelte Alexander, ohne sich von der Tür zu bewegen. „Er hört nicht auf mich, wenn ich versuche, ihn zu beruhigen.“

Isabella fühlte einen Stich des Mitleids für den Jungen. Es war klar, dass Ethan, egal wie sehr Alexander es versuchte, mehr brauchte als kalte, rationale Worte. Er brauchte Zuneigung, Verständnis... und etwas, das sie selbst nicht ganz erklären konnte.

Ethan schien sich schließlich in ihren Armen zu beruhigen und schlief ein, sein Atem normalisierte sich wieder. Isabella legte ihn vorsichtig zurück ins Bett und küsste seine Stirn, spürte eine Welle der Zuneigung, die sie nicht erwartet hatte. Sie stand auf und ging zur Tür, wo Alexander noch immer stand und sie schweigend beobachtete.

„Du solltest dich ausruhen“, sagte er schließlich in einem sanfteren Ton, als sie ihn zuvor gehört hatte.

„Das werde ich“, antwortete sie, obwohl sie tief im Inneren wusste, dass sie nicht schlafen können würde.

Bevor sie das Zimmer verlassen konnte, sprach Alexander erneut, mit der gleichen Festigkeit wie zuvor.

„Morgen machen wir weiter mit dem, was ich dir gezeigt habe“, sagte er, fast wie eine Warnung. „Wir können die Vergangenheit nicht weiter ignorieren, Isabella. Geheimnisse kommen immer ans Licht.“

Isabella antwortete nicht. Sie wusste, dass er tief im Inneren recht hatte. Aber was sie nicht begreifen konnte, war, wie ein einfacher Job als Nanny sie in den Mittelpunkt eines Sturms aus Geheimnissen und Lügen gestellt hatte, die nicht nur die Blackwells betrafen... sondern auch sie selbst.

Als sie in ihr Zimmer zurückkam, fiel sie aufs Bett, das Foto noch immer in ihren Gedanken. Was bedeutete das alles? Warum hatte Alexander ein Bild einer Frau, die genauso aussah wie sie? Die Ungewissheit nagte an ihr, aber was sie am meisten quälte, war die wachsende Verbindung, die sie zu Ethan fühlte.

Da war etwas Tieferes, etwas Verborgenes, das sie nicht verstehen konnte. Etwas, das bald ans Licht kommen würde und ihr Leben für immer verändern würde.

Isabella wachte vor dem Morgengrauen auf, mit dem Gefühl, keinen Augenblick geruht zu haben. Ihr Geist war noch immer von dem durchdrungen, was Alexander ihr am Vorabend gezeigt hatte. Das Foto, die unbeantworteten Fragen, Ethans Schrei... alles hielt sie in einem Wirbel von Gedanken gefangen. Sie wollte sich einreden, dass es nur ein Zufall war, dass die Frau auf dem Foto nicht sie war, aber das Bild hatte sich wie ein Schatten in ihr Gedächtnis eingebrannt, den sie nicht abschütteln konnte.

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