Kapitel 6: Die Begegnung mit dem Schatten

Als Isabella zusah, wie Ethan in sein Zimmer rannte, beschloss sie, im Garten Luft zu schnappen. Die frische Abendluft beruhigte sie, doch ihr Geist spielte immer wieder die Ereignisse des Tages ab. Gerade als sie sich auf eine Bank bei den Rosen setzte, durchbrach eine kalte und vertraute Stimme ihre Ruhe.

„Du wirst zu sehr an diesen Jungen gebunden.“

Isabella erschrak und sah Miranda dort stehen, die Arme verschränkt und die Augen durchdringend in ihre Seele blickend. Mirandas Eleganz kontrastierte scharf mit der Dunkelheit in ihrem Ton.

„Ich mache nur meinen Job“, antwortete Isabella ruhig.

Miranda lächelte, ein Lächeln voller Boshaftigkeit.

„Versteh das nicht falsch, Isabella. Du bist nur eine Nanny. Dein Platz ist nicht hier… und schon gar nicht in der Nähe von Alexander oder Ethan.“

Isabella spürte einen Schauer über ihren Rücken laufen. Bevor sie antworten konnte, näherte sich Miranda langsam, ihre Stimme ein bedrohliches Flüstern.

„Du hast keine Ahnung, was auf dem Spiel steht. Du kennst die Geschichte dieser Familie nicht, noch die Geheimnisse, die wir verbergen. Du wirst hier nicht lange bleiben, das versichere ich dir. Und wenn du gehst… wirst du dich nicht einmal daran erinnern, Ethan getroffen zu haben.“

Isabella fühlte ihr Herz rasen. Was bedeutete das? Was wollte Miranda damit sagen? Doch bevor sie eine Antwort formulieren konnte, drehte sich Miranda um und ging weg, und ließ Isabella mit mehr Fragen als Antworten zurück.

Als Isabella schließlich aufstand, leicht zitternd, hörte sie ein leises Geräusch hinter sich. Ethan stand am Eingang des Gartens, seine Augen weit geöffnet und voller Angst. Wie viel hatte er gehört?

„Ethan?“ fragte sie sanft und ging auf ihn zu.

Doch bevor sie näher kommen konnte, rannte Ethan ins Herrenhaus, ohne ein Wort zu sagen, und ließ Isabella mit einem Knoten im Magen zurück.


Später in der Nacht, als Isabella sich zum Schlafen vorbereitete, wurde ein Umschlag unter ihrer Tür hindurchgeschoben, der sie innehalten ließ. Sie hob ihn mit zitternden Händen auf und öffnete ihn vorsichtig.

Darin war ein einzelnes Blatt Papier, mit handgeschriebenen Worten in schwarzer Tinte:

„Suche nicht weiter nach Antworten. Manche Wahrheiten sind schmerzhafter, als du dir vorstellen kannst.“

Isabella fühlte, wie die Welt um sie herum sich schloss. Wer hatte diese Notiz hinterlassen? Miranda? Jemand anderes? Es war klar, dass es Kräfte in diesem Haus gab, die sie dort nicht haben wollten. Doch jetzt war sie entschlossener denn je, Ethan zu beschützen. Und obwohl sie nicht verstand warum, fühlte sie tief in ihrem Inneren, dass ihre Verbindung zu diesem Jungen stärker war als jede Bedrohung, die sie zerstören könnte.

Dennoch fühlte sie sich unwohl. Sie hatte angefangen, kleine Details an Ethan zu bemerken, Gesten und Ausdrücke, die ihr seltsam vertraut vorkamen. Etwas in der Art, wie er lächelte, wie er die Stirn runzelte, wenn er verärgert war… erinnerte sie an jemanden. An sich selbst.

Isabellas Herz raste. Das konnte nicht sein… oder doch?

Bevor sie ihre Gedanken verarbeiten konnte, riss ein lautes Klopfen an der Tür sie aus ihren Überlegungen. Es war Alexander, sein Gesicht blass und ein Ausdruck, der sie erstarren ließ.

„Isabella, Ethan ist verschwunden.“

Das Echo von Alexanders Worten hallte noch in Isabellas Ohren.

„Ethan ist verschwunden.“

Ihr Verstand versuchte, die Nachricht zu verarbeiten, doch mit jeder Sekunde, die verging, fühlte sie, wie die Panik sie überwältigte. Ohne nachzudenken, rannte sie aus ihrem Zimmer, gefolgt von Alexander, der ebenso gequält aussah wie sie.

—Was meinst du damit, er ist verschwunden? —fragte Isabella, ihre Stimme zitterte, während sie durch die langen Korridore des Herrenhauses eilten—. Hast du sein Zimmer überprüft? Vielleicht versteckt er sich nur...

—Er ist nicht da —antwortete Alexander, ohne stehenzubleiben—. Wir haben jede Ecke durchsucht. Er ist nirgends im Haus.

Angst begann Isabella zu ergreifen, aber auch eine Entschlossenheit, die sie nicht verstehen konnte. Sie musste Ethan finden; sie musste ihn beschützen.

Sie erreichten die Eingangshalle, wo mehrere Mitarbeiter hin und her liefen und nach Hinweisen auf seinen Aufenthaltsort suchten. Miranda saß dort auf einem Sofa, ein Glas Wein in der Hand, und beobachtete das Chaos mit beunruhigender Gelassenheit.

—Wirst du nicht helfen? —fuhr Isabella sie an, ihre Stimme war voller Frustration.

Miranda hob nur eine Augenbraue und schenkte ihr ein zynisches Lächeln.

—Wobei helfen? Der Junge ist nur ein weiteres Problem in diesem Haus. Es überrascht mich nicht, dass er sich entschieden hat zu verschwinden.

Isabella spürte, wie Wut in ihrer Brust aufstieg, aber bevor sie antworten konnte, nahm Alexander sie am Arm und zog sie beiseite.

—Verschwende keine Zeit mit ihr —flüsterte er—. Wir müssen überlegen, wohin er gegangen sein könnte.

In diesem Moment näherte sich einer der Diener ihnen, sein Gesicht war angespannt.

—Mr. Blackwell, wir haben alle Sicherheitskameras überprüft... und es scheint, dass Ethan das Haus vor etwa einer Stunde verlassen hat. Wir haben ihn nicht zurückkommen sehen.

Isabellas Magen sank. Der Junge war draußen, allein, und mitten in der Nacht. Die Zeit lief ihnen davon.

—Ich werde ihn finden —sagte Isabella entschlossen und griff nach einer Jacke am Eingang.

—Du gehst nicht allein —erwiderte Alexander ernst—. Ich komme mit.

Ohne weitere Worte verließen sie beide das Herrenhaus, die kalte Nachtluft traf sie wie eine grausame Erinnerung an die Bedrohung, die in der Dunkelheit lauerte. Ihre Herzen schlugen schneller, als sie zu den Gärten rannten, das Geräusch ihrer Schritte hallte im angespannten Schweigen der Nacht. Jeder Schritt entfernte sie weiter von den Lichtern des Hauses und tauchte sie in einen dunklen Pfad, der das Licht zu verschlucken schien, als ob das Anwesen selbst versuchte, sie drinnen zu halten.

Das Gefühl der Dringlichkeit verstärkte sich mit jedem Schritt, den sie machten; die Luft war dick vor spürbarer Angst, als ob unsichtbare Schatten sie aus den Büschen beobachteten. Isabella spürte einen Knoten im Magen, Ethans Bild erschien vor ihrem inneren Auge. Schuldgefühle umhüllten sie wie ein schwerer Mantel, und sie fragte sich, ob sie genug getan hatte, um ihn zu schützen.

—Wir dürfen nicht aufhören —sagte Alexander, seine Stimme war angespannt, fast ein Flüstern—. Wenn wir ihn nicht bald finden, könnte er in Gefahr sein.

Der Wind heulte durch die Bäume und erzeugte ein Geräusch, das wie ein fernes Klagen klang. Isabella nickte, ihre Entschlossenheit erneuerte sich. Doch tief in ihr drängte sich eine Stimme auf, die darauf bestand, dass etwas Dunkleres hinter Ethans Verschwinden steckte, etwas, das nicht nur den Jungen, sondern auch ihr eigenes Leben gefährden könnte.

Während sie tiefer in die Dunkelheit vordrangen, wuchs der Druck, als ob die Welt um sie herum zerbröckelte. Die Nacht schien lebendig, verborgene Flüstern schwebten in der Luft, während die Spannung sie umhüllte. Sie mussten Ethan finden, nicht nur für ihn, sondern um die Geheimnisse aufzudecken, die das Herrenhaus so sorgfältig gehütet hatte.

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