Kapitel 5: Paige
Heute fühlt sich Alderstone fast friedlich an, eine seltene Sache in einer Stadt, in der die Schatten selbst im Tageslicht lang und dunkel sind. Ich gehe die Straße entlang und ignoriere die beiden Wachen, die ein paar Schritte hinter mir herlaufen. Ich weiß, dass sie jede meiner Bewegungen beobachten, aber ich zwinge mich, es nicht zu beachten. Heute bin ich frei. Keine Besprechungen, keine Konferenzräume voller widerlicher Männer und ihrer beiläufigen Drohungen. Nur ich und die Stadt, und für ein paar gestohlene Stunden fühle ich mich fast wie ich selbst.
In einer Hand halte ich eine kleine Tasche voller neu gedruckter Sprachbücher. Der Duft von frischer Tinte haftet noch an den Seiten, vermischt mit dem Geruch von Schokolade und Karamell von der Waffel am Stiel, die ich ein paar Blocks weiter gekauft habe. Sie ist weich, warm, bedeckt mit dunkler Schokoladensoße und zerstoßenen Haselnüssen, eine Art Leckerei, die ich mir seit Jahren nicht mehr gegönnt habe. Heute erlaube ich mir diesen Genuss.
Ich überquere die Straße und betrete den Park, lasse mich vom kühlen Schatten der Bäume willkommen heißen. Es ist wunderschön hier – goldenes Sonnenlicht filtert durch die Blätter und verstreut sich über die Bänke und gewundenen Pfade. Blumen blühen in lebhaften Pink- und tiefen Lilatönen und setzen Farbakzente in der Landschaft. Ein kleiner Brunnen plätschert in der Ferne, und ein paar Kinder rennen über das Gras, ihr Lachen mischt sich mit dem sanften Murmeln der vorbeigehenden Menschen. Für einen Moment ist es leicht, so zu tun, als wäre ich nur ein weiteres Mädchen mit ihren Büchern und ihrer Waffel, das auf einer Bank sitzt und sich keine Sorgen machen muss.
Ich finde einen Platz unter einer großen, alten Eiche und lasse mich nieder, öffne mein neues Buch. Der Text auf der Seite ist ein Wirrwarr aus japanischen Schriftzeichen, präzise und elegant. Ich fahre mit dem Finger über die erste Zeile, lasse die Zeichen in meinem Kopf umherwandern, während ich meine Waffel esse und mich fast... normal fühle.
Ein wenig später erreichen mich zwei Stimmen, die von Besorgnis durchdrungen sind. Ich schaue auf und sehe ein junges Paar ein paar Schritte entfernt, das zusammen mit einer zerknitterten Karte in der Hand steht, ihre Gesichter sind aufgeregt. Die Worte sind leise, aber unverkennbar – Japanisch.
Ich schließe mein Buch und gehe auf sie zu, schenke ihnen ein kleines Lächeln. „Entschuldigen Sie,“ sage ich auf Japanisch, und sehe, wie sich ihre Gesichter von Verwirrung zu Überraschung wandeln. „Brauchen Sie Hilfe bei der Wegbeschreibung?“
Die Augen der Frau weiten sich. „Sie... Sie sprechen Japanisch?“ sagt sie, ihre Stimme ein wenig atemlos vor Erleichterung.
Ich nicke. „Ja, das tue ich. Wohin möchten Sie gehen?“
Sie erklären es mir, und ich gebe ihnen Wegbeschreibungen, weise auf einen Pfad, der sie zum Hauptplatz führen wird. Ich sehe die Dankbarkeit in ihren Gesichtern, wie sich die Schultern der Frau sichtbar entspannen. Aber als sie immer noch unsicher aussehen, füge ich hinzu: „Hier, ich gehe mit Ihnen. Es ist ganz in der Nähe.“
Wir gehen zusammen durch den Park, und für diese wenigen Minuten vergesse ich die Wachen hinter mir, die Erwartungen und Besprechungen, die morgen auf mich warten. Das Paar plaudert mit mir, fragt nach der Stadt, nach meinem Leben hier, und ich gebe ihnen meine besten Antworten – nur die ehrlichen Teile, die Teile, die ich gerne mehr ausleben würde. Ich fühle mich leichter, freier, jeder Schritt bringt mich weiter weg von dem Leben, dem ich entfliehen möchte.
Als wir den Hauptplatz erreichen, wendet sich die Frau mir zu, Dankbarkeit erleuchtet ihr Gesicht. Sie tritt vor, um mich zu umarmen, eine einfache, freundliche Geste, und mein Herz schwillt an bei der seltenen Berührung von Freundlichkeit. Doch bevor ihre Arme mich erreichen können, höre ich das scharfe Geräusch von Schritten. Meine Wachen kommen bereits näher, bewegen sich vorwärts wie Schatten, bereit, einzugreifen.
Ich drehe mich um, werfe ihnen einen wütenden Blick zu, meine Hände sind zu Fäusten geballt. „Stopp!“ rufe ich, meine Stimme hallt lauter wider, als ich beabsichtigt hatte. „Sie sind nur Touristen. Sie sind keine Gefahr. Hört auf, so zu tun, als wäre jeder eine Bedrohung.“
Die Wachen rühren sich nicht, ihre Gesichter ausdruckslos, aber ich sehe das schwache Aufflackern von Ärger in den Augen eines von ihnen. Ich trete näher, Frustration kocht in mir hoch. „Ihr sollt mich vor echter Gefahr schützen, nicht vor zufälligen Menschen, die freundlich sein wollen.“
Einer von ihnen, ein grobschlächtiger Mann mit verschränkten Armen, hebt eine Augenbraue, unbeeindruckt. Er spricht nicht einmal—starrt mich nur mit diesem gleichgültigen Blick an, als wäre ich derjenige, der im Unrecht ist.
Ich schubse seine Schulter, nicht fest, aber genug, um ihm zu zeigen, dass ich es ernst meine. „Geh aus dem Weg“, murmele ich, die Zähne zusammengepresst, fühle eine Welle der Trotz. Ich weiß, dass sie mich nicht anfassen, nicht zurückschlagen können. Ich bin für sie tabu. „Was willst du tun? Mich verletzen?“
Sein Kiefer spannt sich an, ein Funken Wut flammt in seinen Augen auf, aber er behält seine Stimme tief und bedrohlich. „Reiz mich nicht“, sagt er, seine Stimme klingt wie Schotter. „Du magst für uns unantastbar sein, aber das bedeutet nicht, dass du dich wie ein Gör aufführen kannst.“
Ich hebe mein Kinn, begegne seinem Blick mit einer Sicherheit, die ich nicht ganz fühle. „Oder was?“ fordere ich heraus, lasse die Worte zwischen uns in der Luft hängen. Er antwortet nicht, aber sein Blick sagt genug.
Wir stehen da in Stille, die Spannung ist dick, aber ich breche meinen Blick nicht. Schließlich gibt er nach, wendet seinen Blick ab, und ich drehe mich zu dem Paar um, meine Stimme wird weicher. „Es tut mir so leid. Ich hoffe, Sie genießen den Rest Ihres Tages hier.“
Sie nicken mir mitfühlend zu, sehen von mir zu den Wachen mit einem Hauch von Sorge in ihren Augen, als ob sie etwas sehen, was sie nicht sehen sollten. Und während ich ihnen nachsehe, wie sie in der Menge verschwinden, spüre ich einen seltsamen Stich in meiner Brust—ein Verlangen nach etwas Einfachem, etwas Echtem, das ich weiß, dass ich nie haben werde.
Als ich das Paar in der Menge verschwinden sehe, legt sich ein vertrautes Gewicht über mich—eine Schwere, die ich so lange getragen habe, dass ich sie fast nicht mehr bemerke. Die Wahrheit ist, sie waren wahrscheinlich das Nächste, was ich seit Jahren an einer echten Verbindung hatte. Keine Freunde, niemand zum Reden. Nur Wachen, die jeden meiner Schritte beschatten, beobachten, kontrollieren, berichten. Mein Vater hat dafür gesorgt.
Als ich jünger war, verstand ich nicht, warum er Menschen fernhielt. Ich dachte, ich könnte ein normales Leben führen, durch die Ritzen dieser Existenz schlüpfen und etwas… anderes finden. Aber je älter ich wurde, desto öfter sagte er mir, dass ich unvoreingenommen bleiben müsse. Dass mein Geist klar und fokussiert bleiben müsse. Dass Emotionen—Freundschaften, Beziehungen—mein Urteilsvermögen trüben würden. Und dass ich der perfekte Verhandlungsführer sein müsse, sein Crimson Circle-Vermögen.
Schließlich verbot er sogar den Gedanken an einen Freund, lachte es als kindische Fantasie ab, als wäre es mir nicht einmal erlaubt, das zu wollen. Ich sagte mir, ich würde mich daran gewöhnen. Dass ich niemanden brauche. Aber es ist eine Lüge, die ich an Tagen wie diesem kaum zusammenhalten kann, wenn ich an alles erinnert werde, was ich nie haben werde.
Ich seufze, besiegt, lasse mich von meiner Wache zurück zum Auto führen, ohne ein weiteres Wort. Ich halte meine Augen auf den Boden gerichtet, einen Fuß vor den anderen, spüre die kalte, leere Distanz zwischen mir und der Welt, die ich will, aber nie erreichen werde.
Das Auto wartet, schlank und dunkel, seine polierte Oberfläche reflektiert die Stadtlichter wie ein stiller Raubtier, das in der Nacht lauert, eine deutliche Erinnerung an das Leben, in das ich hineingeboren wurde, das ich nicht entkommen kann, egal wie weit ich zu laufen versuche. Das Gewicht der Unvermeidlichkeit legt sich über mich, als ich vorwärts trete, meine Finger über das kühle Metall des Griffs gleiten, bevor ich schließlich nachgebe und mich mit leiser Resignation auf den Rücksitz gleite. Der Duft von Leder und Kontrolle umgibt mich, erstickend und doch vertraut, und gerade als ich ausatme, bewegt sich die Wache mit geübter Präzision und schließt die Tür hinter mir. Das sanfte, fast zarte Klicken des Schlosses hallt in meinem Kopf weit lauter wider, als es sollte, eine endgültige, unausgesprochene Bestätigung, dass ich genau dort bin, wo sie mich haben wollen—gefangen, besessen und machtlos, es zu ändern.
