Sechstes Kapitel

Avyaanes Perspektive

Die Luft rauschte an mir vorbei, während ich fiel, mein Magen drehte sich vor lauter Angst um. Das Brüllen des Windes erfüllte meine Ohren, und einen Moment lang durchströmte mich Panik: Hatte ich mich verrechnet? Würde ich sterben?

Dann – Aufprall.

Ich krachte auf den Boden, rollte mich ab, als der Schmerz wie eine Explosion durch meine Schulter fuhr. Mein Blick verschwamm, der Schock des Sturzes erschütterte jeden Knochen in mir. Keuchend sog ich scharfe Atemzüge ein, während ich mich auf Hände und Knie hochzog.

Ich hatte überlebt.

Aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Den weißen, heißen Schmerz ignorierend, rappelte ich mich auf und rannte in den dichten Wald außerhalb des Schlossgeländes. Das Hämmern meines Herzens dröhnte in meinen Ohren. Das Band der Gefährten pulsierte in meinem Herzen, eine bedrückende Erinnerung an das, wovor ich floh.

Ich werde nicht ihr Gefangener sein.

Ich rannte, Äste kratzten über meine nackte Haut, meine rohen Füße trommelten auf dem kalten Boden. Mein Wolf durchströmte mich, flehte mich an, mich zu verwandeln, schneller zu werden, aber ich war noch nicht stark genug. Ich hatte mich gerade erst verwandelt. Mein Wolf war da, aber nicht bereit.

Weiterlaufen.

Die Bäume ragten über mir auf, wie ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, füllten den winterlichen Wald mit Schatten, als ich mich weiter in die Dunkelheit drängte. „Nein, nein, ich habe mich nicht verlaufen.“ Ich wusste nicht, wohin ich ging, nur dass ich so weit wie möglich weg musste.

Dann plötzlich

Ein Heulen.

Tief, dumpf und nah.

Angst drehte sich in meinem Magen.

Sie wissen es.

Ich hörte nicht auf zu rennen, aber ich war nicht schnell genug.

Denn ich wurde nicht von irgendjemandem gejagt.

Ich wurde von ihnen gejagt.

Chads Perspektive

In dem Moment, als das Band wie ein Haken durch meine Seele riss, wusste ich es.

Sie rannte.

Dieser kleine Wolf.

Ich stand in meinem Schlafzimmer, meine Finger drückten so fest auf die Fensterbank, dass sie unter meinem Griff knackte. Der beißende Gestank von Angst und Verzweiflung hing in der Luft, stieg aus dem leeren Raum unter ihr auf.

Sie war gesprungen.

Eine stille, eisige Wut drehte sich in meiner Brust.

Wie töricht. Wie absolut dumm.

Glaubte sie wirklich, sie könnte entkommen?

Ich drehte mich um, schritt durch die schwach beleuchteten Flure, meine Muskeln wie eine gespannte Feder. Logan. Killian. Blair. Sie waren bereits unterwegs, folgten schon ihrer Spur.

Ich musste nichts sagen.

Sie fühlten es auch.

Den Reiz unseres Partners, der sich entfernte.

Aber sie würde nicht weit kommen.

Ich trat hinaus in die kalte Nacht, der Mond warf silberne Schatten auf die Schlosssteine. Der ferne Wald erhob sich vor uns, dunkel und endlos, aber sie würde keine Chance haben.

Nicht gegen uns.

Logan war der Erste, der sich verwandelte, sein riesiger brauner Wolf sprang in die Bäume. Killian folgte ihm, sein weißes Fell getarnt gegen die Nacht. Blair, der ewige Jäger, grinste und ließ dann den Wolf die Kontrolle übernehmen.

Und dann war da nur noch ich.

Ich atmete tief ein, ihr Geruch umhüllte mich. Er war jetzt in mich eingebrannt. Ich würde niemals derjenige sein, der sie verliert.

Sie gehörte mir.

Ich ließ die Verwandlung geschehen. Meine Knochen brachen, meine Muskeln verlängerten sich, und im Bruchteil einer Sekunde stand ich auf vier Beinen – ein Tier, bereit zur Jagd.

Ich rannte.

Es war eine Nacht für die Raubtiere.

Und sie war die Beute.

Avyaanes Perspektive

Ich trieb mich weiter an, meine Lungen brannten, meine Beine schrien. Die Äste über mir schwankten heftig im Wind, das einzige Geräusch neben dem schnellen Tappen von Pfoten hinter mir.

Sie kamen.

Ich biss mir so fest auf die Lippe, dass sie blutete. Verdammt. Ich war nicht stark genug. Ich war nicht schnell genug. Mein Wolf heulte in mir, ich sollte rennen, kämpfen, aber ich verstand die Realität.

Sie würden mich fangen.

Ich konnte fühlen, wie sie näher kamen.

Ich tauchte nach links, verfehlte knapp einen Baum, aber da sah ich es – einen Fluss. Die Wasser strömten wütend, die Strömung stark genug, um alles fortzureißen, was sich hineinwagte.

Es war Selbstmord.

Aber zurückzugehen auch.

Ich hörte das Knurren, kurz bevor ich sprang.

Nein!

Ich wurde von hinten getroffen, die Luft wurde mir aus den Lungen gepresst. Ich schlug auf, unter einem unerträglich schweren Gewicht zusammengedrückt. Mein Körper zuckte, aber ohne Erfolg.

Ein Wolf. Massiv. Braunes Fell.

Logan.

Er knurrte, seine riesige Pfote drückte meinen Rücken, hielt mich unter ihm fest.

Mein Atem ging scharf, Panik stieg in meiner Brust auf. Ich wehrte mich heftiger, meine Fingernägel gruben sich in den Boden. „Geh von mir runter!“

Er verwandelte sich – Knochen knackten, Muskeln verzerrten sich. Und es war kein Wolf mehr, der mich festhielt.

Es war er.

Logans Haut lag an meinem Rücken, als er sich herunterbeugte, sein Atem warm an meinem Ohr. „Du dachtest, du könntest uns entkommen, kleiner Wolf?“

Wut entflammte in mir, verbrannte meine Angst. „Geh. Runter.“

Logan lachte. Ein tiefes, dunkles Geräusch, das mir den Rücken hinunterlief.

Dann eine andere Stimme.

„Sie gehört uns, Logan. Du musst sie noch nicht brechen.“

Chad.

Mein Blut gefror.

Sein ganz weißer Körper ragte über mir auf, und seine blauen Augen leuchteten im Mondlicht. Er stand mit verschränkten Armen da und betrachtete mich, als wäre ich etwas Zerbrechliches.

Etwas, das ihm gehörte.

Ich presste die Zähne zusammen. „Ich werde niemals dir gehören.“

Chads Gesicht verdüsterte sich. Plötzlich beugte er sich herunter und packte mein Kinn zwischen seinen Fingern. „Du gehörst mir bereits.“

Seine Berührung war Feuer, und ich hasste, dass mein Körper darauf reagierte.

Ich stieß ihn weg, oder versuchte es.

Er rührte sich nicht.

Killian und Blair traten aus den Bäumen, umkreisten mich wie Schatten.

Blair seufzte dramatisch. „Hab ich doch gesagt, dass sie versuchen würde zu fliehen.“

Killian lachte dunkel. „Und jetzt zahlt sie dafür.“

Chads Griff verstärkte sich. „Du hattest eine Gelegenheit, das leicht zu machen, Avyaane.“ Seine Stimme war tödlich. „Du hast falsch gewählt.“

Eine abscheuliche Stille senkte sich zwischen uns.

Und ich wusste – ich würde gleich herausfinden, was das bedeutete.

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