Kapitel 1
Amelia
Um drei Uhr morgens krachte der Donner über den Himmel und ließ die Fenster unseres Brownstone-Hauses in Brooklyn erzittern. Regen peitschte unaufhörlich gegen die Scheiben. Doch es war nicht der Sturm, der mich weckte.
Es war das Geräusch – die abgehackten, flachen Atemzüge aus dem Zimmer meines Großvaters.
Ich rannte barfuß den Flur hinunter, das Herz raste.
„Opa?“
William Thompson – mein Anker, meine einzige verbliebene Familie – war blass und vor Schmerz verzerrt, eine Hand krallte sich an seine Brust, seine blauen Augen weit aufgerissen vor Angst.
„Amelia…“ Seine Lippen zitterten. „George… Black… er schuldet mir… ein Leben.“
Meine Kehle schnürte sich zu. „Sprich nicht. Bitte.“
Ich fummelte mit meinem Telefon herum, die Finger rutschten ab, während ich 911 wählte. Jahre der Ausbildung, unzählige Nächte im Praktikum, und alles, was ich jetzt tun konnte, war, meine Hand auf seine Brust zu legen, jeden fehlenden Atemzug zu zählen und zu beten, dass es nicht sein letzter sein würde.
Als ich sein Kissen zurechtrückte, streifte meine Hand etwas Steifes. Ein Foto. Zwei junge Männer, die Arme um einander geschlungen, grinsten in die Kamera. Auf der Rückseite stand in verblasster Tinte:
George & William, 1985 – Brüder im Leben und im Tod.
„Opa, was bedeutet das?“ Aber seine Augen waren bereits geschlossen.
Sirenen durchbrachen den Sturm. Sanitäter stürmten ins Zimmer, ihre Stimmen scharf und kurz. Ich folgte ihnen den Flur entlang, durch den Regen, geblendet vom Flimmern der roten Lichter.
Als ich das Krankenhaus erreichte, klebten meine Haare an meinem Gesicht, meine Kleidung war feucht von Regen und Tränen.
Die grellen Leuchtstofflampen brannten hart und steril. Das rhythmische Piepen der Monitore hallte wie ein Countdown in meiner Brust wider.
„Die nächsten vierundzwanzig Stunden sind entscheidend“, sagte der Arzt düster.
Der Boden fühlte sich an, als würde er unter mir kippen. Meine Mutter war seit einem Jahrzehnt fort – gestohlen durch einen dummen Unfall. Wenn Opa mich auch verließ, gäbe es niemanden mehr. Nichts.
Ich saß draußen vor der Intensivstation, eingehüllt in die sterile Kälte, starrte auf die abblätternde Farbe an der gegenüberliegenden Wand, nur um nicht zu schreien. Meine Kittel von gestern waren immer noch in meiner Tasche verstaut. Mit diesen Händen hatte ich Leben in die Welt gebracht – und jetzt zitterten sie nutzlos.
Dann klingelte mein Telefon. Robert Thompson.
„Ich höre, der alte Mann ist wieder krank“, sagte mein Vater, die Stimme flach.
„Er wäre fast gestorben“, fauchte ich, die Wut durchdrang meine Trauer.
„Na ja“, zog er gedehnt, „perfektes Timing. Margaret und ich fliegen ein, um die Papiere zu erledigen.“
„Welche Papiere?“ Meine Stimme zitterte.
Er lachte, ein Geräusch kälter als der Sturm draußen. „Du wirst morgen fünfundzwanzig, Liebes. Hast du wirklich gedacht, deine Mutter hätte dich frei und ungebunden gelassen? Nein. Es gibt eine Klausel. Dieser Treuhandfonds von ihr? Du wirst keinen Cent sehen, es sei denn…“ Er pausierte, genoss die Grausamkeit. „…es sei denn, du findest irgendeinen armen Tropf, der dich heiratet, bevor die Uhr Mitternacht schlägt.“
Meine Brust zog sich zusammen. „Wovon redest du? Du leitest doch seit zehn Jahren ihre Firma!“
„Nicht alles.“ Seine Stimme wurde schärfer. „Deine Mutter war clever. Sie hat ein Stück nur für dich weggeschlossen. Aber nur, wenn du bis fünfundzwanzig verheiratet bist. Andernfalls gehört es mir.“
Das Blut wich aus meinem Gesicht. „Du hast bis jetzt gewartet? Mit nur einem Tag übrig?“
Er lachte. „Du hast immer gedacht, du wärst klüger als ich. Dabei warst du nicht einmal klug genug, dein eigenes Erbe zu lesen. Erwarte morgen früh die Gerichtspapiere. Und Amelia?“ Sein Ton wurde giftig. „Fang an, die Sachen des alten Mannes auszusortieren. Er wird sie nicht mehr brauchen.“
Die Leitung war tot.
Ich saß wie erstarrt, das Telefon fest ans Ohr gedrückt, lange nachdem das Gespräch beendet war. Meine Hände zitterten, mein Puls dröhnte in meinen Ohren. Er wollte nicht nur alles nehmen – er beobachtete, wartete darauf, dass ich scheiterte.
Ich kehrte auf die Intensivstation zurück. Großvater öffnete die Augen, schwach, aber scharfsinnig.
„Dein Vater hat dich angerufen, nicht wahr?“
Tränen brannten in meinen Augen. Ich nickte.
„Dieses Erbe… es ist nicht nur Geld, Amelia. Es gibt Dinge darin, die deine Mutter schützen wollte. Dein Vater darf sie niemals bekommen.“
„Aber ich kann nicht“, flüsterte ich. „Ich muss bis morgen verheiratet sein. Das ist unmöglich.“
Sein Blick fixierte meinen, trotz seiner Gebrechlichkeit entschlossen. „Georges Enkel. Ethan Black. Er kann dir helfen.“
Der Name ließ meinen Magen sinken. Ethan Black. Wall Streets goldener Teufel.
„Großvater… er ist ein Fremder. Und Männer wie er – er gibt nichts, ohne mehr zu nehmen.“
Doch er war bereits am Verblassen, hustete, bis die Maschinen schrillten und die Krankenschwestern mich aus dem Raum zogen.
Bei Einbruch der Nacht stolperte ich zurück in das Backsteinhaus. Gerichtspapiere lagen auf meinem Schreibtisch:
Anhörung für morgen um 14 Uhr angesetzt. Nichterscheinen führt zum Verlust aller Rechte.
Meine Hände zitterten, als ich ein Foto machte und es meiner besten Freundin Olivia Bennett schickte.
Sie rief sofort an. „Oh, Liebes.“ Ihre Stimme am Telefon war vor Sorge angespannt.
„Wenn du nicht jemanden findest, der mächtig genug ist, wird kein Richter eine solche Ehe glauben.“
Ich lachte bitter. „Wer würde einen Fremden in weniger als zehn Stunden heiraten? Selbst wenn jemand es täte, würde mein Vater ihn abschrecken.“
Ich sank auf den Stuhl und starrte auf die Papiere, bis die Worte verschwammen. Mein Vater hatte mich in die Enge getrieben. Ich hatte niemanden, an den ich mich wenden konnte. Keine Optionen.
Außer Großvaters Worte.
Ethan Black.
Ich öffnete mein Telefon und suchte seinen Namen.
Dutzende Schlagzeilen leuchteten auf dem Bildschirm:
„CEO der Black Investment Group erweitert globales Imperium.“
„Wall Streets begehrtester Milliardär.“
„Ethan Black vernichtet Konkurrenten bei rücksichtsloser Übernahme.“
Mein Atem stockte bei der letzten.
'Ich mache keine Deals. Ich nehme, was ich will.'
Jeder Artikel zeichnete ihn auf dieselbe Weise – kalt, berechnend, gnadenlos. Ein Mann, der keine Imperien aufbaute; er verschlang sie.
Das ist der Mann, dem Großvater vertraute? Ein Mann, der Menschen zum Vergnügen verschlingt? Er würde keinen Finger für mich rühren. Und wenn er es täte… der Preis wäre unerträglich.
Ich ließ das Telefon auf den Schreibtisch fallen, drückte meine Handflächen gegen meine Augen. „Das ist unmöglich.“
Und dann, als ob das Schicksal mich verhöhnen wollte, summte mein Telefon.
Eine neue Nachricht leuchtete auf dem Bildschirm:
[Miss Thompson, Sie brauchen eine Ehe, um Ihr Erbe zu sichern. Rathaus. Morgen um 10 Uhr. —E.B.]
Ich erstarrte.
E.B. Ethan Black.
Der Mann, den ich gerade abgewiesen hatte. Der Mann, der mich irgendwie bereits im Visier hatte.
Mein Puls donnerte. Im Spiegelbild des verdunkelten Bildschirms sah ich das Gesicht meiner Mutter, das mir durch mein eigenes entgegenblickte – ihr stures Kinn, ihre grünen Augen, die einst ganze Vorstandsräume herausgefordert hatten.
Die Stimme meiner Mutter hallte in meinem Kopf: 'Heirate niemals einen Mann, den du nicht wirklich kennst.'
Aber vielleicht war es bereits zu spät. Denn irgendwie kannte Ethan Black mich bereits.
Der Cursor blinkte im Antwortfeld, stetig, gnadenlos. Meine Finger schwebten, zitternd, aber ich konnte kein einziges Wort tippen.
'Ein Mann, der überhaupt keine Deals macht—
Er nimmt, was er will.'
Und morgen früh würde ich genau erfahren, was das bedeutete.
