Kapitel 4
Amelias Perspektive
Als ich im Krankenhaus ankam, versteckte ich instinktiv den Ring in meiner Tasche und schob die Dokumente unter die Patientenakten, bevor ich mich umzog.
Mechanisch überprüfte ich die Operationswunde meines Patienten und stellte fest, dass der Heilungsprozess gut verlief, während meine Gedanken zu den surrealen Ereignissen des Morgens abschweiften.
„Dr. Thompson, denken Sie nicht, dass der Drainageschlauch dieses Patienten gewechselt werden muss?“
Jennys Stimme holte mich in die Realität zurück. Ich blinzelte und konzentrierte mich auf den Schlauch, den ich die letzte Minute gedankenverloren angestarrt hatte.
„Ja, absolut. Bitte bereiten Sie frische Verbände vor und überwachen Sie eventuelle Temperaturveränderungen“, sagte ich und versuchte, so zu klingen, als hätte ich die ganze Zeit darüber nachgedacht. Jenny warf mir einen wissenden Blick zu, der sagte, dass sie mir nicht glaubte.
Nachdem ich die Visite beendet hatte, zog ich mich in mein Büro zurück und ließ mich in meinen Stuhl fallen. Beinahe hätte ich während der Patientenversorgung etwas Offensichtliches übersehen. Diese Ablenkung durch die Heirat beeinträchtigte bereits meine Arbeit, und es waren weniger als zwölf Stunden vergangen, seit ich die Papiere unterschrieben hatte.
Ich zog mein Handy heraus und sah sechs verpasste Anrufe und eine Reihe von Nachrichten von Olivia:
[Wie ist die Anhörung gelaufen?]
[Amy, ruf mich sofort zurück!]
[Hast du gewonnen? Ist dein Vater immer noch ein Arschloch?]
[Ich schwöre, wenn du nicht antwortest, komme ich rüber.]
[Das war's. Ich bin unterwegs.]
Die letzte Nachricht war vor gerade mal zehn Minuten eingegangen. Ich rieb mir die Schläfen und spürte, wie sich eine Migräne anbahnte. Bevor ich sie zurückrufen konnte, flog meine Bürotür auf.
Olivia stand im Türrahmen, die Designer-Sonnenbrille in ihr rotes Haar geschoben und ein besorgter Gesichtsausdruck, der sie mehr wie meine besorgte Mutter als meine beste Freundin aussehen ließ.
„Amy, was zum Teufel? Warum gehst du nicht ans Telefon? Wie ist die Anhörung gelaufen?“ Sie stürmte auf mich zu und ließ ihre übergroße Tasche auf meinen Schreibtisch fallen.
Ich stand auf und umarmte sie, plötzlich dankbar für ihren dramatischen Auftritt. „Es war... kompliziert. Aber ich habe gewonnen – zumindest vorerst.“
Olivia trat zurück und musterte mein Gesicht, als würde sie ein Drehbuch analysieren. „Warte, letztes Mal hast du gesagt, du müsstest heiraten, um dein Erbe zu behalten. Jetzt hast du es? Irgendwas stimmt nicht.“
Ich wich ihrem Blick aus und beschäftigte mich damit, die Patientenakten auf meinem Schreibtisch zu ordnen. „Wie gesagt, es ist kompliziert...“
„Amelia“, sagte sie und setzte sich auf die Kante meines Schreibtisches, „hast du tatsächlich geheiratet?“
Ich zuckte zusammen. „William hat es arrangiert. Es war der einzige Weg, das Erbe zu schützen. Ich hatte keine Wahl, und es ist nur vorübergehend.“
„Also hast du buchstäblich einen völlig Fremden geheiratet?“ Olivias Stimme stieg um eine Oktave.
„Sei leise“, zischte ich und richtete unbewusst die Dokumente in meiner Hand.
Sie riss mir das Dokument direkt aus der Hand, wodurch ein offizielles Papier aus dem Ordner rutschte und zu Boden fiel.
Olivia bückte sich, um zu helfen, erstarrte jedoch, als sie sah, was es war. „Das ist... eine Heiratsurkunde? Amelia Thompson und Ethan Black?“ Ihre Augen weiteten sich komisch.
Mein Magen verkrampfte sich. Ich stürzte vor, um das Papier zu schnappen, aber Olivia trat zurück. „Olivia, du hast nichts gesehen.“
„Heilige Scheiße, Amy!“ flüsterte sie, ihr Gesicht erbleichte. „Hast du eine Ahnung, wen du gerade geheiratet hast?“
Ich gestikulierte hektisch, damit sie ihre Stimme senkte. „Bitte, niemand darf davon erfahren.“
Olivia beugte sich vor, ihre Stimme kaum hörbar. „Ethan Black? Der Ethan Black von der Black Investment Group?“
„Ja“, gab ich widerwillig zu.
„In Geschäftskreisen nennen sie ihn den ‚Eisprinzen‘. Er erscheint selten in der Öffentlichkeit.“ Olivias Ausdruck war todernst. „Die Blacks machen keine Wohltätigkeit, Amy. Wenn sie dir helfen, wollen sie etwas im Gegenzug.“
Ich sank in meinen Stuhl zurück und erinnerte mich an die kalte, berechnende Art, wie Ethan alles gehandhabt hatte. „Ich war nur darauf konzentriert, das Anwesen meiner Mutter zu schützen. Ich habe nicht daran gedacht, was die Familie von Black wollen könnte.“
Ich ergriff Olivias Hände und drückte sie fest. „Liv, ich habe eine strenge Geheimhaltungsvereinbarung unterschrieben.“ Ich sah sie eindringlich an. „Ich weiß, du hasst Geheimnisse, aber ich brauche dein Versprechen, dass du niemandem etwas erzählst.“
Olivia nickte ernst. „Ich schwöre, ich werde kein Wort sagen. Aber Amy, sei vorsichtig. Ethan Black ist nicht irgendwer.“
Ich schenkte ihr ein bitteres Lächeln. „Im Moment hoffe ich nur, das Erbe meiner Mutter sicher zu halten.“
Als ich auf die Uhrzeit auf meinem Handy schaute, überkam mich eine weitere Welle der Angst. „Ich soll heute Abend bei ihm einziehen...“
„Was?“ Olivia schrie fast. „Ihr wohnt zusammen? Amy, das ist gefährlich! Du weißt nichts über ihn! Was, wenn—“
Mein Handy piepte mit einer Nachricht von Michael, die eine Adresse in der Upper East Side enthielt. Ein Luxus-Penthouse. Natürlich.
„Es ist erledigt, Liv. Kein Zurück mehr.“ Ich zeigte ihr die Adresse.
„Jesus,“ flüsterte sie. „Das ist eines der exklusivsten Gebäude in Manhattan.“
Um 22 Uhr stand ich mit einem kleinen Koffer in der Hand auf dem Bürgersteig vor dem imposanten Gebäude und fühlte mich völlig fehl am Platz. Der Sicherheitsmann musterte mich misstrauisch, als ich mich näherte.
„Kann ich Ihnen helfen, Miss?“ Sein Tonfall deutete darauf hin, dass ich hier nichts zu suchen hatte.
„Ich bin hier, um... Ethan Black zu sehen.“ Die Worte fühlten sich fremd auf meiner Zunge an.
Der Ausdruck des Wächters änderte sich nicht. „Mr. Black hat keine Besucher autorisiert.“
Bevor ich widersprechen konnte, erschien eine vertraute Gestalt—Michael.
„Dr. Thompson, ich entschuldige mich für das Missverständnis.“ Er nickte dem Wächter zu. „Sie wird erwartet.“
Der Wachmann sah skeptisch aus, trat aber zur Seite. Michael nahm meinen Koffer und führte mich zu einem privaten Aufzug.
„Mr. Black kommt normalerweise spät zurück,“ erklärte er, als wir eintraten. „Mrs. Hopkins ist die Haushälterin. Wenn Sie etwas brauchen, kann sie Ihnen helfen.“
Eine streng aussehende ältere Frau arrangierte Blumen im Eingangsbereich. Sie musterte mich von oben bis unten, ihr Blick verweilte missbilligend auf meiner Jeans und meinen Turnschuhen.
„Sie sind die neue... Mrs. Black?“ Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel an ihrer Skepsis.
„Ja, ich bin Amelia Thompson,“ sagte ich und behielt bewusst meinen Mädchennamen bei.
„Mr. Black schätzt normalerweise keine... legere Kleidung,“ sagte sie mit einem Schniefen.
Nachdem Michael gegangen war, erinnerte sich Mrs. Hopkins plötzlich an dringende Aufgaben in einem anderen Teil der Wohnung und ließ mich allein.
Statt mich über ihren kühlen Empfang zu ärgern, war ich erleichtert. Das Letzte, was ich wollte, war gezwungener Smalltalk mit jemandem, der mich offensichtlich missbilligte.
Ich erkundete die Wohnung und wählte das Gästezimmer, das am weitesten vom vermutlich Master-Schlafzimmer entfernt war. Als ich meine wenigen Habseligkeiten in den riesigen Schrank räumte, wurde mir schmerzlich bewusst, wie wenig ich mitgebracht hatte—nur genug Kleidung für ein paar Tage und grundlegende Toilettenartikel.
Während ich eine mentale Einkaufsliste erstellte—Zahnbürste, Shampoo, Kaffee, einfache Lebensmittel—beschloss ich, einen nahegelegenen Laden zu finden. Besser, sich zu beschäftigen, als in dieser sterilen Museumswohnung herumzusitzen.
Um Mitternacht kehrte ich mit Einkaufstüten zurück. Die Wohnung war dunkel, und ich tastete an der Wand entlang nach einem Lichtschalter.
Als das Licht endlich anging, schnappte ich nach Luft. Ethan saß in einem Ledersessel, ein Glas Whiskey in der Hand, und beobachtete mich mit kalter Intensität.
Erschrocken ließ ich die Tüten fallen. Der Inhalt verstreute sich über den makellosen Boden—Zahnpasta rollte in eine Richtung, eine Schachtel Tampons in eine andere, und meine Shampooflaschen klapperten laut in der Stille.
Ethans Augen wanderten von meinem geröteten Gesicht zu dem Durcheinander, sein Ausdruck war undurchschaubar. „Erster Tag, und du bringst schon alles durcheinander.“
Ein großartiger Start ins Eheleben.
