Kapitel 1 Wiedergeboren

Kate Jennings war tot.

Sie war allein in einer verlassenen Fabrik gestorben. Ihr Körper lag reglos auf dem gefrorenen Boden, purpurrotes Blut breitete sich im Schnee aus, während ihre Seele darüber schwebte und in der kalten Stille schluchzte.

Nicht weit entfernt lag ein Mann, verstümmelt, seine Glieder abgetrennt, sein Atem flach. Und doch konnte er sie irgendwie sehen.

Er kämpfte sich ein Lächeln ab, seine Stimme zitterte. „Kate … bist du das?“

„Ich bin es!“, schrie sie und stürzte sich verzweifelt auf ihn, nur um geradewegs durch seinen schwindenden Körper hindurchzugleiten. Der Aufprall des Nichts zwang sie in die Knie. Ein Schmerz zerriss ihre Brust, so scharf, als würde ihre Seele bluten. Ihr Schrei zerfetzte die Luft. „Ethan … warum? Warum bist du hierhergekommen, um mich zu retten?“

Sie hatte ihn verachtet, ihn vor anderen gedemütigt. Warum sollte er …

„Weil ich dich liebe.“ Ethan Levington lächelte schwach, als hätte ihre Trauer ihn erreicht. „Es tut mir leid, Kate … Ich konnte dich nicht retten. Aber vielleicht ist es so besser. Wir sterben zusammen … also sind wir am Ende doch zusammen.“

Sein Lächeln verweilte einen Herzschlag lang, bevor sich seine Augen schlossen und das Leben aus ihm wich.

„Nein!“, zerschnitt ihr Schrei die eisige Luft.

Doch bevor das Echo verhallte, durchbrach eine sanfte Männerstimme die Szene.

„Kate, es ist Zeit, den Ring anzustecken.“

Die Welt um sie herum veränderte sich augenblicklich. Das Blut, der Schnee, Ethans zerbrochener Körper – alles verschwand.

An ihrer Stelle stand Blake Hamilton, sein perfektes Lächeln glatt wie poliertes Glas. Er kniete da, eine Samtschatulle in der Hand, in der ein Diamant von der Größe eines Taubeneis das Licht einfing.

Kates Gedanken waren leer, als hätte sie ein Blitz getroffen. War sie nicht tot?

Was war mit Ethan?

Der Schmerz des Stahls, der ihr Herz durchbohrte, der Anblick von Ethans letztem Atemzug – diese Erinnerungen waren ihr in die Knochen gebrannt. Das konnte kein Traum sein.

Was war das hier dann?

„Kate?“, fragte Blake mit sanfterer Stimme, doch in seinen Augen zuckte Ungeduld.

Sie kniff sich fest in den Oberschenkel. Der Schmerz war stechend, real. Das Hochzeitskleid klebte an ihr wie ein Geist aus einem anderen Leben. Sie erinnerte sich – der 9. Juni. Der Tag ihrer Verlobung mit Blake.

Sie war wiedergeboren worden. Ein Jahr vor dem Gemetzel.

Blakes Lächeln überlagerte sich in ihren Gedanken mit dem kalten, gnadenlosen Gesicht aus ihrem letzten Leben – dem Moment, als er ihr eine Klinge in die Brust stieß und flüsterte: „Warum stirbst du nicht einfach?“ Die Erinnerung ließ ihren Magen rebellieren.

Sie wollte ihn tot sehen.

Ihre Nägel gruben sich in ihre Handflächen. Noch nicht. Sie durfte diese zweite Chance nicht für einen Impuls verschwenden.

Die Stille im Raum wurde unerträglich. Blakes Lächeln erstarb.

Dann durchbrach eine zarte Stimme die Spannung.

„Kate, gib ihm schon deine Hand. Blake wartet. Bring uns nicht vor den Leuten in Verlegenheit.“

Kates Kopf schnellte zu der Sprecherin herum. Der Anblick der Frau in dem blassen Kleid ließ sie rotsehen.

Sophia Jennings. Ihre „liebe Schwester“. Die uneheliche Tochter von Richard Jennings.

Sophia – für die Welt zerbrechlich und mit Rehaugen, in den Schatten aber skrupellos. Sie hatte süßlich gelächelt, während sie Blake half, Kate zu töten, und hatte auch Ethan nicht verschont, selbst nachdem er alles riskiert hatte, um sie zu retten.

Der Gedanke an Ethans Tod schnürte ihr das Herz zu, bis Kate keine Luft mehr bekam.

Sophia beugte sich näher, ihre Stimme nur für die Umstehenden zu hören. „Kate, alles gut. Jeder ist bei seiner Verlobung nervös. Besonders mit Blake … seinen Retter zu heiraten, muss sich wie ein Traum anfühlen. An deiner Stelle wäre ich auch nervös.“

In ihren Augen lag gerade genug Neid, um aufrichtig zu wirken.

Kates Lippen verzogen sich zu einem kalten Lächeln. Immer noch dieselbe Show. Retter? Eher ein Raubtier in glänzender Rüstung.

Und ob Blake sie jemals wirklich gerettet hatte … diesmal würde sie es herausfinden.

Ihr Blick wurde scharf vor Entschlossenheit. Sie hob ihre Hand, als wollte sie den Ring annehmen – und schlug dann Blakes Hand zur Seite. Die Schatulle fiel zu Boden, der Diamant schlitterte mit einem scharfen, klirrenden Geräusch über den roten Teppich.

„Ich werde mich nicht verloben.“

Ihre Stimme war nicht laut, doch sie schnitt wie eine Klinge durch die Stille.

Der Raum erstarrte. Blake, Sophia und Richard Jennings saßen am Haupttisch.

„Kate! Was hast du da gerade gesagt?! Bist du verrückt geworden?“, donnerte Richards Stimme, als er mit der Faust auf den Tisch schlug, sein Gesicht vor Wut verzerrt.

Kates Blick war eisig. Sie sah ihn nicht mehr als Vater an, sondern als Feind.

Tatsächlich war jeder sogenannte Verwandte, der heute anwesend war, in Wahrheit ihr Feind. Und dazu zählte natürlich auch der kalte und gefühllose Richard, dessen gesellschaftlicher Aufstieg allein auf der Heirat mit ihrer Mutter beruhte. Er hatte Elizabeth Morgan bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt und versuchte nun, ihre Tochter auf denselben tragischen Pfad zu zwingen, indem er sie an Blake verkaufte – einen weiteren Mann, der sie nur für seinen eigenen Vorteil ausnutzen wollte. Gleich und gleich gesellt sich eben gern.

„Den Verstand verloren? Ich war noch nie klarer bei Sinnen. Hörst du schlecht, Vater? Oder lässt dein Gehör nach?“ Ihr Lächeln war purer Spott. „Ich sage es noch einmal – ich werde mich heute nicht verloben.“

Sie riss sich den Schleier vom Kopf, warf ihn zu Boden und zermahlte ihn unter ihrem Absatz.

„Du undankbares Gör!“ Richards Hand schnellte empor, bereit zuzuschlagen, doch Blake fing seinen Arm ab.

„Mr. Jennings, bitte. Überlassen Sie das mir.“ Blakes Stimme blieb der versammelten Menge zuliebe sanft.

Er wandte sich wieder Kate zu und runzelte die Stirn gerade so sehr, dass er besorgt aussah. „Kate, ich weiß, ich war heute zu spät und das hat dich verärgert. Aber das ist nicht der richtige Zeitpunkt für ein Drama. Lass uns die Zeremonie beenden, und ich mache es später wieder gut.“

„Drama?“, Kates Lachen klang scharf. „Blake, glaubst du wirklich, du wärst meinen Zorn wert?“

Sie trat näher, ihre Worte leise, aber für die vorderen Reihen deutlich genug. „Du bist ein Parasit, der sich an Frauen hochzieht, gierig nach meinem Status, nach dem Vermögen, das meine Mutter mir hinterlassen hat. Glaubst du, ich weiß das nicht? Das Einzige, was du in mir auslöst, ist Abscheu.“

Die Maske glitt von Blakes Gesicht, und in seinen Augen blitzte etwas Dunkleres auf.

Sophia reagierte schnell, ihre Stimme sanft. „Meine Damen und Herren, es tut mir leid. Kate wurde von Kindheit an verhätschelt. Blake kam zu spät, Vater hat sie gescholten, und jetzt ist sie aufgebracht. Sie meint nicht, was sie sagt.“

Sie wandte sich an Kate, ihr Tonfall zugleich süßlich und tadelnd. „Kate, wie kannst du nur so über Blake sprechen? Er ist fleißig, freundlich … Lass nicht zu, dass die Wut dich dazu bringt, ihn zu verletzen.“

Perfekt. Sie schützte Richards Würde, verteidigte Blake und stellte Kate als das verzogene Mädchen dar.

Kates Lächeln wurde breiter. „Sophia … du scheinst ihn ja besser zu kennen als ich. Woran liegt das? Schlaft ihr etwa miteinander? Du verteidigst ihn ja mit großem Eifer. Wenn das der Fall ist, ist es mir gegenüber furchtbar unfair.“

„Kate!“ Sophias Augen weiteten sich, Tränen schossen ihr sofort hinein. „Was ist heute nur los mit dir?“

Kate ignorierte sie. Ihr Blick war auf den schwarzen Bentley gerichtet, der vor der Kirche hielt.

Es war Ethans Wagen.

In ihrem früheren Leben war er auch dort gewesen. Doch an jenem Tag hatte sie, dank Blakes Manipulationen, Dinge zu Ethan gesagt, die sie niemals zurücknehmen konnte.

Ihn jetzt wiederzusehen … es fühlte sich an, als würde sich die Welt verschieben.

Sie hob ihr Kleid an und schritt auf die Tür zu.

Ethan stieg aus, groß und schlank, und sie konnte sich nicht zurückhalten. Sie warf ihre Arme um ihn und hielt ihn fest.

Ein Raunen ging durch die Menge.

„Betrügt Kate Blake etwa in aller Öffentlichkeit?“

„Ist das nicht Mr. Levington? Sind die nicht Erzfeinde?“

„Kate …?“, erstarrte Ethan, die Hände halb erhoben, um sie wegzustoßen.

Dann erklang ihre Stimme, fest und klar genug, um durch den stillen Raum zu hallen.

„Ethan … lass uns heiraten.“

Im Saal herrschte absolute Stille.

Blakes Gesicht verfinsterte sich. Ethan stand steif da, seine Augen ein tobender Sturm. In einem anderen Leben hatte sie geschworen, ihn zu hassen, ihn niemals heiraten zu wollen.

Und jetzt … welches Spiel spielte sie?

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