Kapitel Zehn — Die Verfolgung
Der Wald verschwamm vor ihren Augen.
Eiras Lunge brannte bei jedem Atemzug, ihre nackten Füße rissen durch das Unterholz, während Äste nach ihrer Haut griffen. Die Nacht war dicht und atemlos, die Bäume drängten sich wie Wächter an sie heran, der Boden unter ihr war uneben. Ihr Haar peitschte in wirren Strähnen hinter ihr her, verfing sich in Zweigen und schlug ihr ins Gesicht. Ihr Kleid war zerrissen, Schlamm klebte an ihren Waden, und Blut sickerte aus Schnitten, für die sie keine Zeit hatte, sie zu spüren.
Sie hielt nicht an.
Konnte nicht.
Sie wusste nicht mehr, wovor sie weglief – nur, dass sie weiterlaufen musste. Weg aus diesem Zimmer. Weg von den Händen, die nach ihr griffen. Weg von den Augen, die durch sie hindurchsahen. Weg von dem monströsen Geräusch von Knochen, die unter einer Faust brachen, und dem Feuer, das sie aus den Trümmern angestarrt hatte.
Das Pochen ihres Herzens donnerte in ihren Ohren, und sie konnte es kaum von dem Stampfen ihrer Füße auf der Erde unterscheiden. Ihr Atem kam in scharfen, unregelmäßigen Zügen. Jeder Atemzug fühlte sich an wie Glas.
Irgendwo hinter ihr antwortete etwas.
Nicht mit Worten.
Ein Knurren.
Tief. Wild. Zu nah.
Sie trieb sich weiter an, ihre Lunge schrie, und ihr Sichtfeld wurde an den Rändern dunkel. Ihre Beine zitterten jetzt, die Muskeln verkrampften sich, jeder Schritt drohte nachzugeben. Aber der Überlebensinstinkt war lauter.
Bis sie es spürte –
Nicht nur hinter ihr.
Um sie herum.
Die Präsenz.
Schwer. Wild.
Die Luft war dicker. Geladen. Wie der Moment, bevor ein Sturm losbricht.
Sie geriet ins Straucheln und stürzte beinahe, als ihr Fuß an einer Wurzel hängen blieb. Sie fing sich wieder, und jetzt stachen ihr Tränen in die Augen – nicht aus Angst. Aus Frustration. Erschöpfung. Ihr Körper flehte sie an, aufzuhören.
Aber ihr Körper hatte nicht das Sagen.
Sie krachte durch ein Dickicht und stolperte auf eine Lichtung, die von der Mondsichel über ihr erhellt wurde. Dort hielt sie inne, nur für einen Atemzug. Einen. Vielleicht zwei.
Da hörte sie es.
Das leise Knacken eines Astes.
Sie wirbelte herum, das Herz rutschte ihr in den Hals – und sah nichts als Schwärze.
Aber sie spürte es.
Ein Kribbeln im Nacken. Ein Pulsieren in der Luft, das weder von den Bäumen noch vom Wind kam.
Ihre Wölfin regte sich unruhig unter ihrer Haut.
Und plötzlich wusste sie es.
Er war hier.
Caius.
Er jagte sie nicht. Er hetzte sie.
Und er war nah.
Sie drehte sich um und rannte wieder los, zwang sich zurück zwischen die Bäume, während ihr Herz so laut schrie wie ihre Lunge. Der Wald verschwamm erneut, und jetzt klang jeder Schritt hinter ihr lauter, schwerer.
Näher.
Sie konnte ihn fühlen.
Und er würde nicht aufhören.
Sie durchbrach eine weitere Wand aus Ästen – und rannte ihm direkt in die Arme.
Caius.
Er stand mit nacktem Oberkörper da, Dampf stieg von seiner Haut auf, sein dunkles Haar war schweißnass. Seine Brust hob und senkte sich von der Anstrengung der Verwandlung, die Muskeln spannten sich wie gewundene Seile. Er war riesig. Überragend. Wild. In seinen Augen brannten die letzten Überreste seines Wolfes, und auf seiner Haut war Blut – teils sein eigenes, teils nicht.
Aber bei den Göttern, er war wunderschön.
Wild und zerstört und atemberaubend.
Er trug nichts. Die Verwandlung hatte die wenigen Kleidungsstücke, die er getragen hatte, zerfetzt und ihn nackt im Mondlicht zurückgelassen. Sein Körper war wie aus etwas Wildem und Göttlichem gemeißelt – Muskel über Muskel, die Brust glänzend vor Schweiß und seine Männlichkeit prall, erigiert und unmissverständlich hart. Nichts an ihm war schüchtern. Nichts Menschliches lag in der Art, wie er sie ansah. Er verbarg sein Verlangen nicht. Er beanspruchte sie mit seinen Augen, noch bevor er sie überhaupt berührte.
Er packte sie.
Drückte sie fest.
Ihr Rücken schlug gegen einen Baum, die Rinde bohrte sich in ihre Wirbelsäule. Seine Hände waren zu beiden Seiten ihres Kopfes, sein Körper umschloss ihren wie ein Käfig. Er beugte sich vor, seine Lippen an ihrem Hals, und atmete sie ein wie die Erlösung.
„Mein“, knurrte er.
Und dann küsste er sie.
Wild. Besitzergreifend. Als könnte er sie mit einem einzigen Atemzug verschlingen und doch niemals genug bekommen.
Sie erstarrte – dann wehrte sie sich.
Ihr Knie schnellte hoch, hart und spitz, und rammte ihm in den Schritt.
Überrascht taumelte er mit einem Grunzen zurück.
Eira zögerte nicht.
Sie stieß sich vom Baum ab und rannte.
Doch sie kam nur wenige Meter weit, bevor seine Hand sich um ihr Handgelenk schloss und sie mit der Gewalt einer Flut, die das Ihre zurückfordert, an sich riss.
Sie trat und schrie, hämmerte mit den Fäusten gegen seine Brust, ihr Atem ging schnell und stoßweise, am Rande der Panik. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sahen nichts, ihr Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.
Er sprach nicht. Er handelte einfach.
In einer einzigen, schnellen Bewegung warf Caius sie über seine Schulter, als wöge sie nichts. Ihre Fäuste schlugen auf seinen Rücken, ihre Stimme erhob sich in panischem Protest, doch er zuckte nicht einmal zusammen. Er schritt auf das Geräusch von rauschendem Wasser in der Ferne zu, seine Schritte zielgerichtet, unerbittlich.
Der Fluss tauchte zwischen den Bäumen im Schimmer des Mondlichts auf.
Und ohne Vorwarnung warf er sie hinein.
Das eiskalte Wasser traf sie wie eine Wand. Keuchend und prustend tauchte sie wieder auf, ihre Arme schlugen schockiert um sich. Ihr Atem stockte, als die Kälte ihre Lungen erreichte und die Panik in reinen Instinkt zersprang.
Ein zweites Platschen folgte.
Caius war bei ihr im Fluss, bis zur Brust im Wasser, seine Augen leuchteten schwach im Mondlicht.
Er bewegte sich langsam auf sie zu, die Hände erhoben, die Stimme leise.
„Atme, kleine Wölfin“, sagte er. „Ich brauche dich bei klarem Verstand.“
Zitternd wich sie zurück.
„Ich werde dir nicht wehtun“, murmelte er und fing sie sanft auf. „Ich bin dein Gefährte. Und du bist mein.“
Eira starrte ihn an, Wasser rann ihr über das Gesicht, Haarsträhnen klebten an ihren Wangen. Ihre Augen waren weit aufgerissen – nicht vor Ehrfurcht, sondern vor Unglauben.
Sie stieß einen zittrigen Atemzug aus, halb Lachen, halb Schluchzen. „Du bist nicht mein Gefährte.“
Caius blinzelte, als würden die Worte nicht zu ihm durchdringen.
Doch das taten sie.
Er erstarrte.
Sein Wolf heulte in seiner Brust – laut, wütend, verwirrt. Die Verbindung sang so laut, dass seine Haut zu jucken begann und sich sein Kiefer anspannte. Sie irrte sich. Sie musste sich irren.
„Ich habe dich gespürt“, sagte er mit heiserer, wilder Stimme. „Ich war mir in meinem ganzen Leben noch nie einer Sache so sicher.“
Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, um ihn erneut wegzustoßen, doch er schoss vor, umfasste ihr Gesicht und presste seinen Mund auf ihren.
Der Kuss war diesmal anders – nicht weniger intensiv, aber schmerzerfüllt, verzweifelt. Seine Seele griff nach etwas, das sich weigerte, zurückzugreifen.
Und als ihre Lippen sich trafen, regte sich etwas tief in ihr.
Etwas Uraltes.
Etwas Wölfisches.
Ihre Wölfin zitterte an die Oberfläche, als hätte sie die ganze Zeit geschlafen.
Und sie öffnete ihre Augen.
