Fünftes Kapitel — Die Jagd

Die Bäume schlossen sich um sie wie alte Freunde. Die Erde war feucht und wild unter ihren Pfoten, als Eira durch die Wälder raste, ihr weißes Fell wie ein Lichtstreif in der Dunkelheit. Sie hielt sich geduckt, schlängelte sich durch Brombeergestrüpp und Wurzeln, huschte an mondbeschienenen Farnen und umgestürzten Baumstämmen vorbei.

Sie wusste nicht, wohin sie lief.

Sie wusste nur, dass sie in Bewegung bleiben musste.

In der Ferne erhoben sich Stimmen. Rufe. Knurren. Schritte, die durch das Unterholz krachten. Die Patrouillen hatten ihre Abwesenheit bemerkt.

Eira wich vom Pfad ab, ihre Brust hob und senkte sich vor Anstrengung, ihre Pfoten schnitten durch weiches Moos und scharfen Stein. Schmerz durchzuckte ihre Glieder, doch sie trieb sich nur noch härter an.

Sie würden ihre Fährte wittern, wenn sie langsamer wurde. Sie würden sie fangen, wenn sie anhielt.

Sie passierte ein altes Bachbett, sprang dann über eine flache Schlucht, das Herz pochte ihr so heftig, dass sie es bis im Hals spüren konnte. Ihre Ohren waren nach hinten angelegt. Ihr Atem ging in scharfen, kurzen Zügen.

Ein weiteres Heulen hallte hinter ihr durch die Bäume.

Näher.

Sie hechtete in ein Dickicht und erstarrte, kauerte sich tief in den Schlamm. Nur wenige Meter entfernt liefen zwei Wachen vorbei, ihre Wolfsgestalten massiv und knurrend. Einer von ihnen hielt inne – schnüffelte in die Luft.

Eira hielt den Atem an.

Dann zogen sie weiter.

Sie wartete nicht. Sie rannte wieder los und nutzte das Chaos ihrer sich kreuzenden Duftspuren, um Zeit zu gewinnen. Ihre Beine brannten. Ihre Lungen schmerzten.

Als sie schließlich in einen Fluss stolperte, brach sie am Ufer zusammen und ließ sich in die Strömung rollen, bis ihr Körper bis zum Hals untergetaucht war.

Die Kälte war ein Schock – aber sie überdeckte augenblicklich ihren Geruch.

Zähnefletschend watete sie durch das Wasser, bis die Strömung nachließ. Dann zerrte sie sich am gegenüberliegenden Ufer aus dem Wasser, zitternd, durchnässt und dem Zusammenbruch nahe.

Sie hatte keine Kraft mehr.

Sie rollte sich unter einem großen Überhang aus verschlungenen Wurzeln am Flussufer zusammen, das Moos feucht unter ihrem Körper. Ihr Herzschlag verlangsamte sich. Ihre Atmung wurde ruhiger.

Und zum ersten Mal in ihrem Leben wusste niemand, wo sie war.

Der Schlaf überkam sie wie ein Sturm.

Als sie erwachte, war ihr Körper nicht länger pelzig und wild. Die Wölfin, erschöpft, hatte die Kontrolle an ihre menschliche Gestalt zurückgegeben.

Eira lag nackt auf dem feuchten Moos, die Glieder eng an den Körper gezogen gegen die Morgenkälte. Ihre Haut war blass und hatte eine Gänsehaut, Wasser perlte noch von der vergangenen Nacht an ihr ab. Ein Schauer durchfuhr sie, als sie sich langsam aufsetzte und die Arme um ihre Brust schlang.

Sie hatte nichts – keine Kleidung, kein Essen, keinen Orientierungssinn. Nur einen pochenden Schmerz in ihren Muskeln und den Geschmack von Freiheit auf der Zunge.

Ein Ast knackte.

Sie wirbelte herum, huschte hinter einen nahen Baum, das Herz hämmerte gegen ihre Rippen.

Eine Gestalt trat aus den Bäumen hervor – ein großer Mann mit einer über die Schulter gehängten Reisetasche und einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze. Er hielt inne, als er die schemenhafte Bewegung sah.

„Ich will Ihnen nicht wehtun“, sagte er ruhig, seine Stimme tief und von der Reise gezeichnet.

Eira antwortete nicht.

Langsam legte der Mann seinen Umhang ab und hielt ihn in ihre Richtung, ohne einen Schritt näherzukommen. „Sieht aus, als könnten Sie den besser gebrauchen als ich.“

Sie zögerte. Dann griff sie vorsichtig zu, riss ihm den Stoff aus der ausgestreckten Hand und zog sich wieder hinter den Baum zurück, um ihn fest um ihren zitternden Körper zu wickeln.

Er drehte sich leicht zur Seite und kehrte ihr als Geste des Vertrauens den Rücken zu.

„Ich bin nur auf der Durchreise“, sagte er. „Aber wenn du Hilfe brauchst … bleibe ich ein wenig länger.“

Eira sagte nichts.

Doch ihr Griff um den Umhang wurde fester.

Und zum ersten Mal, seit sie geflohen war, fühlte sie sich nicht mehr völlig allein.

Der Reisende kauerte am Flussufer und sammelte trockene Zweige und Moos unter einem nahen Baum. Eira blieb dicht an den Schatten, den Umhang fest um ihren Körper geschlungen, und beobachtete ihn mit wachsamen Augen.

Er schlug einen Feuerstein, und bald knisterte ein kleines Feuer zwischen ihnen, dessen Wärme die Feuchtigkeit aus ihren Knochen sog. Die Hitze war berauschend. Ihre Finger schlichen näher an die Flammen, während sie sich langsam hinter dem Baum hervorwagte.

Ohne ein Wort zog er einen Brocken Brot aus seiner Tasche und reichte ihn ihr, zusammen mit einer blechernen Wasserflasche. Sie zögerte, nahm dann beides mit einem Nicken an und murmelte ein leises, heiseres „Danke“.

Er saß im Schneidersitz auf der anderen Seite des Feuers, starrte nicht, bohrte nicht nach. Er gab ihr einfach Raum.

Nach einer Weile sprach er wieder. „Nicht weit von hier gibt es ein Dorf. Klein. Ruhig. Dort wärst du sicher – zumindest für eine Weile. Ich kann dich hinbringen, wenn du möchtest.“

Eira blickte auf, die Lippen leicht geöffnet.

So weit hatte sie nicht gedacht. Sie hatte nicht über den Wald, den Fluss, die Flucht hinausgedacht. Aber die Erwähnung von Sicherheit – ein Ort, an dem man sie nicht erkennen würde, an dem sich niemand vor ihr verneigen oder sie fesseln würde – fühlte sich an wie ein Seil, das man einem ertrinkenden Mädchen zuwirft.

Sie nickte klein und unsicher.

„In Ordnung“, sagte er schlicht und warf einen weiteren Stock ins Feuer. „Wir gehen, wenn du bereit bist.“

Sie brachen im Morgengrauen auf, als das Feuer erstickt und der Wald noch vom Tau feucht war. Eira ging neben dem Reisenden, den geliehenen Umhang fest um ihre Schultern gezogen, die Kapuze tief ins Gesicht. Ihre Füße waren nackt, jeder Schritt schmerzte auf der Erde und den Steinen, aber sie sagte nichts. Der Schmerz hielt sie am Boden.

Sie sprachen wenig. Er führte sie über gewundene Waldwege und durch mit Wildblumen bewachsene Wiesen, wobei er stets ein gemächliches Tempo hielt.

Gegen Mittag lichteten sich die Bäume, und über dem Bergrücken tauchten die fernen Umrisse von Holzdächern auf.

Das Dorf.

Als sie es betraten, drehten sich Köpfe um. Kinder, die am Brunnen spielten, hielten inne und starrten. Ein Stalljunge erstarrte mitten in einer Bewegung mit der Schaufel. Eira spürte das Gewicht ihrer Blicke – auf ihrem zerzausten Haar, ihrer schmutzigen Haut, ihren nackten, mit Schlamm verkrusteten Füßen. Sie sah aus wie etwas Wildes, das aus dem Wald gekrochen war.

Ein schönes, ungezähmtes Durcheinander.

Der Reisende sagte nichts, legte ihr nur eine ruhige Hand auf den Rücken und führte sie zu einem warm erleuchteten Gebäude, von dessen Dachvorsprung vertraute rote Laternen schwankten.

Ein Bordell.

Die Luft roch nach Parfüm und Sünde, aber es war ein Zufluchtsort.

Die Puffmutter sah sie, als sie eintraten, und zog eine Augenbraue hoch.

„Sie braucht ein Bad, eine Mahlzeit und ein Bett“, sagte der Reisende. „Niemand rührt sie an.“

Die Puffmutter musterte Eira einen Moment lang, bevor sie nickte. „Komm mit mir, Liebling.“

Eira folgte, schweigend.

Und vorerst in Sicherheit.

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