Sechstes Kapitel — Die Güte von Fremden
Als Eira das Zimmer erreichte, war das Bad bereits eingelassen. Dampf kräuselte sich in der Luft, durchzogen von Lavendelöl und etwas Dunklerem – vielleicht Amber. Etwas Warmes, Erdendes.
Cass stand neben der Wanne, die Ärmel hochgekrempelt, ein Handtuch über der Schulter. Ihr Blick musterte Eira unter dichten Wimpern hervor, und ihre Lippen verzogen sich zu etwas, das nicht ganz Belustigung war.
„Du siehst aus, als hätten dich die Wölfe angeschleppt“, sagte sie sanft. „Aber ich glaube, das kriegen wir wieder hin.“
Eira zögerte an der Schwelle. Sie krallte sich immer noch in den Reisemantel, der ihren nackten Körper umhüllte, ihre Fingerknöchel zeichneten sich weiß auf dem Stoff ab. Cass bemerkte es.
„Hey“, sagte sie nun noch leiser, „du bist hier in Sicherheit. Niemand wird dir etwas tun. Nicht, solange ich atme.“
Diese Stimme – tief, beständig, unerschütterlich – besaß ein Gewicht, das Eira nicht erwartet hatte. Sie nickte einmal und trat ein.
Cass half ihr, sich auszuziehen, ohne einen einzigen lüsternen Blick oder eine Verurteilung. Sie war sachlich, aber vorsichtig, als würde sie eine Wunde versorgen. Und vielleicht tat sie das ja auch.
In dem Moment, als Eira in die Wanne sank, zitterte ihr Körper. Die Hitze krallte sich in ihre Knochen. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie tief die Kälte eingesickert war, bis sie von dem nach Lavendel duftenden Wasser vertrieben wurde.
Cass kniete sich hinter sie und goss Wasser über ihr Haar. „Wie heißt du?“
Eira zögerte. Dann: „Eira.“
Cass nickte. „Schön. Ich bin Cass.“
Danach sprachen sie nicht mehr viel. Aber Cass wusch ihr die Haare, schrubbte den Schmutz von ihrer Haut und hüllte sie in einen Morgenmantel, der schwach nach Rose und Rauch roch.
Ein einfaches Baumwollkleid und weiche Unterwäsche lagen für sie bereit. Nichts Extravagantes, aber sauber, warm und vorerst ihrs.
„Komm runter, wenn du so weit bist“, sagte Cass und hielt an der Tür inne. „Du musst nicht reden. Du musst nichts tun, was du nicht willst. Iss einfach. Ruh dich aus. Heile.“
Dann ließ sie Eira allein, und zum ersten Mal seit Tagen fühlte Eira sich nicht mehr gejagt.
Sie fühlte sich gesehen.
Doch als die Stille einkehrte, kamen auch die Geräusche von jenseits ihrer Tür.
Stöhnen. Grunzen. Das rhythmische Knarren von Betten. Leises Keuchen und gutturale Laute, die den Raum wie Rauch füllten – unverblümt und roh.
Eira saß still da, eingewickelt in den Morgenmantel, den Cass ihr gegeben hatte, und starrte auf die flackernde Kerze auf dem Nachttisch. Ihre Finger krallten sich fester in den Stoff. Die Wärme des Bades begann zu verfliegen und wurde durch einen kalten Knoten in ihrem Magen ersetzt.
Sie war nicht mehr auf dem Anwesen ihrer Eltern. Nicht mehr in Seide gehüllt oder wie eine Reliquie zur Schau gestellt. Hier war die Welt anders – unverdünnt, rau und ehrlich.
Für einen Moment fragte sie sich, ob sie einen Fehler gemacht hatte.
Ob sie aus einem Gefängnis geflohen war, nur um in einem anderen zu landen.
Aber dann atmete sie tief durch. Erinnerte sich an Claras höhnisches Grinsen. Alders Griff. Die Stimme ihrer Mutter, kalt wie Marmor.
Nein.
Das hier mochte Chaos sein, aber es war ihrs.
Und das machte den entscheidenden Unterschied.
Eira stand auf und tappte barfuß zur Tür, der weiche Baumwollstoff des Kleides streifte ihre Knie. Der Morgenmantel schmiegte sich an ihre Schultern, als sie die Treppe hinabstieg, eine Hand glitt über den polierten Handlauf. Auf halbem Weg kam ihr der Duft von Gewürzen, Holzrauch und etwas Süßerem entgegen.
Cass stand am Kamin und sprach mit der Madam – einer großen Frau mit scharfen Wangenknochen und rot lackierten Nägeln, die Eira von oben bis unten musterte, sobald sie eintrat.
„Na, sieh mal einer an“, sagte die Puffmutter mit sich kräuselnden Lippen. „Hübsch zurechtgemacht.“
Cass lächelte sanft und winkte sie zu sich herüber. Auf dem Tisch wartete ein warmer Teller – Brot, Eintopf und eine kleine Tasse mit etwas, das schwach nach Beeren roch. Eiras Magen knurrte hörbar.
„Iss“, sagte Cass. „Du brauchst das.“
Eira ließ sich auf den Stuhl sinken und nahm langsam einen Bissen, während sie beide Frauen unter ihren Wimpern hervor beobachtete. Das Essen schmeckte wie das erste Richtige, das sie seit Tagen bekommen hatte.
Als der Teller halb leer war, legte sie ihren Löffel ab und blickte zwischen den beiden hin und her.
„Ich möchte arbeiten“, sagte sie leise.
Die Puffmutter zog eine Augenbraue hoch. Cass sah überrascht aus.
„Arbeiten?“, wiederholte die Puffmutter. „Du weißt schon, wo du hier bist, mein Täubchen, oder?“
Eira nickte. „Ich weiß. Ich will nur …“, sie schluckte. „Ich kann Laken waschen. Böden schrubben. Mir ist egal, was es ist. Ich will nur nicht nutzlos sein.“
Die Puffmutter legte den Kopf schief. „Hast du Erfahrung?“
Eira schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe noch nie … Ich bin Jungfrau.“
Cass blinzelte, und ihr Mund wurde schmal – nicht aus Verurteilung, sondern aus einem weicheren Gefühl heraus. Vielleicht Verständnis.
„Dann wirst du auch nichts tun, wofür du nicht bereit bist“, sagte Cass schnell.
Die Puffmutter musterte sie erneut und nickte dann langsam. „Wir finden schon was für dich. Laken, Küche, vielleicht das Feuer hüten. Niemand fasst dich an, wenn du es nicht erlaubst.“
Eira atmete aus.
Sie hatte kein Geld. Keinen Plan. Kein Zuhause.
Aber jetzt hatte sie eine Aufgabe.
Einige Minuten später kam Cass zurück und führte sie einen schmalen hinteren Korridor entlang, vorbei an einer Waschküche und einem verschlossenen Lagerraum, bis sie eine niedrige Holztür erreichten, die sich unter die Treppe schmiegte. Sie knarrte auf und gab den Blick auf einen winzigen Raum mit einem einzelnen Bett, einer dünnen Matratze und einer kleinen Kommode frei, bei der eine Schublade fehlte.
Es war nicht viel.
Aber für Eira war es alles.
Ein Zimmer ohne Wachen. Ein Bett, das nicht den Erwartungen eines anderen gehörte. Eine Tür, die sie schließen und ihr Eigen nennen konnte.
Sie trat ein, fuhr mit den Fingern über den abgesplitterten Holzrahmen des Bettes und erlaubte sich zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit zu lächeln.
Das hier war kein Palast. Es war nicht poliert oder parfümiert.
Aber es war ihres.
In dieser Nacht rollte sie sich unter der dünnen Decke zusammen, der Duft von Lavendel haftete noch schwach an ihrer Haut. Das Zimmer war dunkel, still, bis auf die gedämpften Geräusche von Schritten und leisen Stimmen hinter der Wand. Sie hätte Angst haben sollen. Sie hätte alles infrage stellen sollen.
Doch stattdessen träumte sie.
Und er war wieder da.
Der Mann aus ihren Träumen. Diesmal nicht sanft – nicht warm und beobachtend.
Er war wild.
Seine Augen glühten wie Kohlen. Sein Mund war zu einem Knurren verzogen. Er kam barbrüstig aus dem Wald, übersät mit Narben, und bewegte sich mit der Anmut eines Raubtiers. Seine Hände packten ihre Arme, drückten sie zu Boden. Nicht, um sie zu verletzen – nein. Sondern um sie zu beanspruchen.
Ihr Körper reagierte, bevor ihr Verstand nachkam. Sie bog sich unter ihm durch, atemlos, berauscht von seiner Hitze. Seine Stimme war rau an ihrem Hals.
„Mein.“
Sie schrak hoch und rang im Dunkeln nach Luft.
Ihre Haut war gerötet. Ihre Beine waren in der Decke verheddert. Ihr Herz hämmerte wie eine Warnung gegen ihre Rippen.
Sie presste eine Hand auf ihre Lippen.
Sie wusste nicht, wer er war.
Aber ihre Seele wusste es.
Und etwas sagte ihr – er war nicht nur ein Traum.
Er war auf dem Weg.
