Kapitel 6

Victoria zog leicht eine Augenbraue hoch.

Sie konnte die Vorsicht in Alexanders Augen sehen. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, jemandem einen Gefallen zu schulden, oder vielleicht vermutete er, dass sie Hintergedanken hatte?

Ursprünglich hatte Victoria ablehnen wollen, aber der stechende Schmerz in ihrem Unterleib ließ sie ihre Meinung ändern.

„Danke“, sagte sie ruhig und ignorierte absichtlich den überraschten Ausdruck in Alexanders Augen.

Unter den Lichtern im Flur beobachtete Alexander diskret die Frau, die sich Victoria nannte.

Wusste sie nicht, dass Bianca nicht seine Tochter war? Jeder in der High Society von Emerald City wusste, dass Bianca das Kind war, das ihm von seinem Mentor auf dem Sterbebett anvertraut worden war.

Es sei denn, sie spielte nur.

Alexanders Blick wurde kalt.

Im Laufe der Jahre hatten viele Frauen versucht, sich über Bianca ihm zu nähern und dabei alle möglichen Tricks angewendet.

Wenn Victoria eine von ihnen war, dann war ihre Schauspielerei tadellos. An der Art, wie sie Bianca ansah, konnte Alexander keinen Hauch von Vortäuschung erkennen.

„Hier entlang“, sagte Alexander, trat zur Seite und warf einen Blick auf Victorias leicht blasse Lippen.

Im Inneren des Maybachs verströmten die Ledersitze einen dezenten Duft.

Bianca saß sicher im Kindersitz auf der Rückbank, Victoria neben ihr.

Das Auto war still.

Bianca schien die subtile Spannung zwischen den Erwachsenen zu spüren. Sie zupfte an Victorias Ärmel. „Victoria, kann ich dich in Zukunft kontaktieren?“

Victoria erweichte sich bei Biancas hoffnungsvollem Blick.

Sie mochte dieses kluge und lebhafte Kind wirklich. Die pure Begeisterung, die Bianca zeigte, wenn sie über Waffen sprach, erinnerte sie an ihre jüngere Selbst.

„Natürlich“, sagte Victoria sanft, ihre Stimme war sanfter, als sie es beabsichtigt hatte.

Durch den Rückspiegel sah Alexander Biancas seltenes, glückliches Lächeln und dann schaute er zu Victoria. Er begann zu zweifeln, ob die Frau, mit der er eine Nacht verbracht hatte, wirklich Victoria war. Vielleicht hatte er ihre Identität verwechselt.

„Wir sind da“, verkündete Alexander und hielt das Auto vor der Gonzalez Villa an, sein Blick war komplex, als er das Gebäude betrachtete.

Dies war Haydens Residenz, und sie waren Geschäftsrivalen. Er hatte nie davon gehört, dass Hayden eine Tochter namens Victoria hatte.

Victoria öffnete schnell die Autotür und lächelte Bianca an. „Auf Wiedersehen, Bianca.“

„Auf Wiedersehen, Victoria! Vergiss unser Versprechen nicht!“ rief Bianca und lehnte sich gegen das Autofenster.

Victoria nickte, warf Alexander einen knappen Blick zu und ging dann ohne zurückzuschauen zur Gonzalez Villa.

Alexander beobachtete ihren geraden Rücken, sein Blick wurde tiefer.

Als der Maybach langsam davonfuhr, wählte Alexander die Nummer seines Assistenten. „Überprüfe Haydens Familienmitglieder, besonders ein Mädchen namens Victoria. Ich will alle Details.“

Victoria betrat die Gonzalez Villa und ging direkt in den dritten Stock. Sie öffnete die Tür am Ende des Flurs, die früher Vedas Zimmer war, aber jetzt ihres.

Eine schwarze Katze, Angel, lugte hinter den Vorhängen hervor, ihre goldenen Augen leuchteten im schwachen Licht.

Anmutig sprang sie auf Victorias Schulter und schmiegte sich zärtlich an ihre Wange.

„Hast du mich vermisst?“ Victoria kraulte das Kinn der Katze und nahm ein kleines Gerät aus ihrer Tasche.

Angel schien zu verstehen, was sie vorhatte, und sprang gehorsam auf die Fensterbank, um zuzusehen.

Die nächste halbe Stunde installierte Victoria geschickt Miniatur-Überwachungskameras in verschiedenen Ecken des Zimmers: in der Lampenschirm, im Kleiderschrank, hinter den Vorhanghaken und sogar im Lüftungsschacht.

Ihre Finger bewegten sich geschickt und schufen ein umfassendes Überwachungsnetzwerk.

„Alles erledigt“, sagte Victoria und klatschte in die Hände, während sie die Überwachungs-App auf ihrem Handy öffnete. Sechs verschiedene Blickwinkel erschienen auf dem Bildschirm. „Jetzt kann niemand mein Zimmer betreten, ohne dass du es weißt, richtig, Angel?“

Die schwarze Katze wedelte elegant mit dem Schwanz und sprang zurück in ihre Arme.

Victoria setzte sich auf das Bett, hielt Angel fest und nahm eine Packung Katzensnacks aus der Schublade.

Angels Ohren stellten sich auf, und sie legte ihre Vorderpfoten auf Victorias Handgelenk.

„Gierig“, kicherte Victoria, und ihr Blick wurde sanfter.

Nur in solchen Momenten schien die kalte Aura um sie herum leicht zu verschwinden.

Als der Himmel draußen dunkler wurde, schaute Victoria auf ihre Uhr. Es war 18:45 Uhr, Zeit fürs Abendessen.

Sie setzte Angel ab, richtete ihren Kragen und betrachtete ihr Spiegelbild. Ihr Gesicht war ruhig und zeigte keine Emotionen.

Als sie nach unten ging, saßen bereits einige Leute im Speisesaal.

Hayden saß am Kopfende des Tisches, sein Ausdruck grimmig. Neben ihm war seine dritte Frau, Ava, die mit perfekt geschminktem Gesicht etwas flüsterte. Die Pflegetochter Veda saß rechts von Ava und sah in einem weißen Kleid erbärmlich aus. Avas leibliche Tochter, Scarlett Gonzalez, saß neben Veda, ihr sechzehnjähriges Gesicht voller Verachtung.

„Endlich entschlossen runterzukommen?“ sagte Hayden kalt. „Die ganze Familie warten zu lassen, damit wir essen können, was für eine Einstellung.“

Victoria ging direkt zu einem leeren Platz und setzte sich, ohne die Absicht zu zeigen, sich zu entschuldigen. „Ich habe mein Zimmer organisiert.“

Hayden schlug sein Weinglas auf den Tisch, der Sockel klirrte scharf gegen den Marmortisch.

„Victoria, du gehst zu weit!“ Haydens Schläfenadern traten hervor. „Ich habe ein Zimmer für dich arrangiert. Warum belegst du Vedas?“

Victoria schnitt ruhig ihr Steak, das Messer kratzte mit einem schrillen Geräusch über den Porzellanteller.

Sie blickte zu Veda auf, die sich auf die Lippe biss, ihre Augen rot, als hätte sie großes Unrecht erlitten.

Victoria legte das Messer hin, ihre Stimme eisig. „Eine Pflegetochter ohne Blutsverwandtschaft, wie kann sie es wagen, sich meine Schwester zu nennen?“

Haydens Gesicht wurde aschfahl, seine Finger umklammerten die Serviette fest.

Ava klopfte schnell auf Haydens Rücken, ihre rot lackierten Nägel glitzerten im Licht.

„Papa, sei nicht böse“, Vedas Stimme zitterte, Tränen traten ihr in die Augen. „Victoria ist gerade erst nach Hause gekommen und ist es nicht gewohnt. Wenn sie mein Zimmer mag, gebe ich es ihr.“

Victoria lachte plötzlich, die silberne Gabel klirrte auf ihren Teller.

„Veda, hast du genug von dieser Show?“ Sie starrte in Vedas flackernde Augen und sagte: „Du hast mir ein schimmliges Lagerzimmer gegeben, schlimmer als die Dienerquartiere. Was gibst du jetzt vor, großzügig zu sein?“

Haydens Ausdruck schwankte, und er sah Veda misstrauisch an. Vedas Gesicht wurde blass, ihre schlanken Finger verkrampften sich ineinander.

„Victoria, du hast mich missverstanden.“ Vedas Stimme war tränenreich.

„Genug!“ Scarlett stand plötzlich auf und zeigte auf Victoria. „Wie kannst du es wagen, Veda zu verleumden? Kaum zurück und schon Unruhe stiften!“

Victoria wischte sich gemächlich den Mund ab, ihr Blick wanderte zu ihrer Halbschwester. „Scarlett, mit so einem schmutzigen Mund, pass auf, dass Dad dir nicht eines Tages eine zwanzigjährige Sekretärsstiefmutter besorgt.“

Sie warf Ava einen vielsagenden Blick zu und sagte: „Immerhin hat deine Mutter ihre Position so bekommen, nicht wahr?“

Avas Gesicht wurde weiß, ihre rot lackierten Nägel krallten sich in die Serviette.

Hayden stand abrupt auf, sein Stuhl kratzte laut über den Boden.

„Victoria! Du bist zu anmaßend!“ brüllte Hayden, seine Schläfenadern traten hervor. „Ich hatte vor, dich im Unternehmen einzuarbeiten, aber jetzt muss ich das überdenken!“

Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel